Der Begriff Magie wird von vom altgriechischen Wort Maggi ( Weiser) abgeleitet. Laut dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot lebte in der Antike im heutigen Iran ein Volk mit vielen Weisen, die sich der Traumdeutung und Astrologie verschrieben und es darin zur Meisterschaft gebracht hatten. Seitdem gilt das Volk der Magoi als Wurzel für die transzendenten Kräfte jener magischer Zusammenhänge, an deren Ende der moderne Mensch, so auch ich, von der ungeheuren Faszination eines Zustandes, eines Eindrucks oder bestimmter Empfindungen – der Magie – spricht. Tauchen wir ein in die Magie des Winters, der Raunächte, des Raureifs, der Schneekristalle und ihren Allegorien.

Das Gespür und die Namen
In der Ver lmung des großartigen Romans von Peter Høeg „Frau Smillas Gespür für Schnee“ von 1997 behauptet die Hauptdarstellerin Smilla Jaspersen alias Julia Ormond, eine gebürtige Inuit, in der Sprache des Eskimos kenne man viel Wörter für Schnee. Eskimosprachen sind nach Kathrin Passig allerdings polysynthetisch. Inuit fassen verschiedene Situationen, etwa für gefallenen oder fallenden Schnee oder Schnee, der zu schmelzen beginnt etc. in einem einzigen Wort zusammen. Gleichwohl begeistert das Flockengewirbel, gleich ob nass, trocken, körnig, groß im Umfang oder körnig winzig, weltweit die Menschen. Egal, ob Frau Holle das Bettzeug über der sonnenverwöhnten Levante oder dem nebelgrauen und nassen Südwesten Englands auszuschütteln beliebt. Die weiße Pracht besteht bei näherer Betrachtung aus kleinen und kleinsten Kristallen der zu Eis gefrorenen Wassermoleküle, die sich stets im Winkel von 60 oder 120 Grad formen. Weit über 6.000 Schneekristallformen sind inzwischen bekannt. Die ca. fünf Millimeter im Durchschnitt kleinen, vier Milligramm leichten Flocken, die dank der diffusen Reflexion des umgebenden Lichtes an den Grenz ächen der Kristalle für das menschliche Auge weiß erscheinen, verzaubern jedes Menschenherz. Sie verwandeln den unwirtlichsten und unästhetischsten Ort aus dem monochromen Modus in eine wahre Zauberwelt. Selbst das winzigste Ästlein trägt eine weiße Zipfelmütze und die Welt wirkt wie eingehüllt in einen dicken weißen Vlies. Die Luft ist eigenartig still, jedes Geräusch wirkt schallgedämpft. Für Sekunden, Minuten oder Tage verwandeln sich Natur, Städte, Dörfer und Straßen in ein weichgezeichnetes Stilleben von
unendlicher Feinheit und Ziselierung.

Die Allegorien des Winters
Dass der Winter als Jahreszeit gerne mit Vergänglichkeit und Tod verglichenwurde, dürfte nicht weiter erstaunen. Thomas Mann lässt in seinem „Zauberberg“ den Protagonisten Hans Castorp über Franz Schuberts Zyklus „Die Winterreise“ mit deutlichen Sympathien für
den Tod spielen. Vielen Literaten galt die Wahrnehmung frostiger Landstricheund der nachgerade leblosen Natur als sinnbildlicher Grabeshauch, wie es z.B. Charles Baudelaire in „Die Blumen des Bösen“ behauptet. Manfred Frank entwickelte aus Goethes „Harz- reise im Winter“ gar eine „Kulturgeschichte des untergehenden Abendlandes“. Allerdings war derlei Ansinnen dem großen Meister damals wirklich fern. Seine alpinistisch anmutende Besteigung des Brockens im Winter, eine Ode an die Liebe zu Charlotte von Stein und die Freude über die abenteuerliche wie entbehrungsreiche Bezwingung des winterlichen Brockens, war freilich so nicht intendiert. Erst in der späten Romantik durch Johannes Brahms in der Alt- Rhapsodie (1869) und durch den Liederzyklus von Franz Schubert, basierend auf dem Gedichtzyklus von Wilhelm Müller (1823/24) entwickelte sich der Winter als Allegorie für das Lebensende, Welt- schmerz, gar drohende Krisen oder gesellschaftliche wie politische Umstürze. Brahms verband drei Strophen aus Goethes „Harzreise“ mit dem zuvor erlittenen Seelenschmerz der verschmähten Liebe zu Julie Schumann, der Tochter von Clara und Robert Schumann. Er schuf ein beeindruckendes, schwermütiges Werk für Altsolo, Männerchor und Orchester. Ein Blick auf das Bild „Winterlandschaft“ von Caspar David Friedrich von 1811 verstärkt den Eindruck, dass die Romantik dem Winter eine allegorische Note von Ende, Abschluss und Vergänglichkeit verlieh. Heute übersetzt man den Winter gerne mit Ruhe, mit Innehalten, Stille und vor allen Dingen mit Erneuerung. „Schneeflocken fallen und lehren unsere Welt, träumend zu schweigen“ schreibt eine unbekannte Zeitgenossin. Von Khalil Gibran, christlich-libanesischer Dichter, stammt die Allegorie: „Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters“. Und, bei genauer Betrachtung der Natur, stellt sich die winterliche Schauens- und Wachstumspause in Wahrheit als die Ruhe vor dem Wachstumssturm des Frühlings heraus. Innehalten, kontemplatives Sich-Versammeln – bevor das Licht des Frühlings die bereits vorbereiteten Wachstumsgeister zum Leben erwecken wird.

Das Zusammenspiel von Kälte und Wärme
Chione war in der griechischen Mythologie die Nymphe und kleine Göttin des Schnees. Mythologen und Geographen der Antike verorteten Hyperborea, die Heimat des gottgleichen Nordwindes namens Borea und Vaters von Chione, im hohen Norden. „Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück...“ schreibt der Philosoph Friedrich Nietzsche im „Antichrist“ und verweist auf die Erhabenheit, geistige Schönheit der Hyperboreer. Was, so wird sich der von zivilisatorischen Annehmlichkeiten wie Dauerlicht, permanenter Warmwasser-Verfügbarkeit, intelligenten Heizungen und wärmegedämmten Wohnräumen umgebene Mensch fragen, was mag man der schockgefrorenen Erstarrung, den klammen Fingern und den quälenden Kälteschauern eigentlich Positives abgewinnen? Zweierlei! Erstens eben diese Geschenke der Moderne mit Wärmequellen in den abgelegensten Winkeln der Erde. Dazu Bewegung an frischer Luft, wie die Wellness- und Fitnessauguren nicht müde werden zu betonen. Sie lässt die Muskelmotoren des menschlichen Körpers auf Hochtouren arbeiten und versorgt, von innen, den Körper samt Extremitäten mit angenehmer Eigenwärme. Gut verpackt in ermojacken, isolierenden Kleidungsschichten gefrieren lediglich Tropfen aus triefenden Nasen zu Eiskristallen. In Männerbärten wachsen wahre kristalline Universen und die vor Kälte glühenden Wangen zaubern die gesunde Farbe in ganz und gar entspannte Gesichter, die für uns synonym für magische Wintererlebnisse stehen. Zweitens sehnen wir uns nach natürlichen Wärmequellen wie o ene Feuer, das Prasseln in glühenden Kaminöfen, die wohlige, glühweingeschwängerte Wärme einer Hütte oder des eigenen Wohnzimmers. Heinz-Dieter Quack, Tourismusprofessor an der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter meinte unlängst auf die Frage, wovon ein positives Wintererlebnis abhänge, trocken: Schneelandschaften und natürliche Wärmequellen in ihnen. Die Magie des
Spiegelblank – Traumwelt auf Eis Winters also eine Liaison aus Kältestarre, Winterweiß und Wohlfühlwärme.

Vom Zauber der Winternächte
Winterlicht vermag die weißen Landschaftsgemälde mit zarten Farbnuancen förmlich zu erhöhen. Flüchtige Lichtereignisse lassen mal jenes Landschaftsdetail, mal die tief gestaffelten Konturen eines Hügelteppichs, mal den raureifbehangenen Weißdornbusch ins Rampenlicht des Betrachters rücken. Ob die sternengleiche Sonne über der scheinbar achtlos in den Horizont ausgebreiteten Bettdecke brilliert, ob sich die tief stehende Sonne als Bühnenbeleuchterin eines stummen Waldes probiert – das Winterlicht übt auf das menschliche Gemüt eine wahrlich magische Anziehungskraft aus. Zu diesem Zauber tragen aber besonders die Winternächte bei. Ungleich klarer breitet sich über streulichtarmen Regionen der unendliche Kosmos mit seiner Detailfülle aus. Man kann sich leicht in unsere Vorfahren hineinversetzen, die, wie etwa die Kelten und Germanen, der Natur und damit auch dem Himmel und ihrer genauen Beobachtung eine besondere Bedeutung zumaßen. Die sogenannten Raunächte zwischen dem 21.12. und dem 06.01. gehen auf die germanische Zeitbe- rechnung zurück. Die germanischen Völker kannten zwar das Sonnen- und Mondjahr. Sie berechneten den Mondzyklus allerdings mit 29,5 Tagen. Da das Sonnenjahr 365 Tage umfasste, fehlten am kalendarischen Jahresende jedoch 11 Tage bzw. 12 Nächte. Dies sind die auch heute noch in ländlichen Regionen beachteten Weih- oder Raunächte. Eine jede steht für einen Mondzyklus. Was könnte also die Magie des Winters heute nachteilig beein ussen? Gewiss der Klimawandel und damit die Tatsache, dass sich Väterchen Frost als verlässliche Wettergröße mehr und mehr in die Höhenlagen bzw. in den Norden oder Osten Europas verabschiedet. Grüne Winter mit langanhaltenden Nässeperioden werden häufiger. Die herbstliche Laubfärbung tritt immer später ein, der Frühling macht sich immer früher bemerkbar und selbst der seit Generationen verlässliche Rhythmus der dem Winter weichenden Zugvögel scheint sich zu wandeln. Was bleibt ist eine gewisse landschaftliche Melancholie. Egal, wo und wie auch immer er anzutreffen ist, lass‘ Dich von der Magie des Winters bezaubern.