Outdoor Welten: Ist Winterzeit eine Aufforderung zum „Lassen“? Jeden falls drängt sich die Frage mit Blick auf die schlafende Natur auf.

Ulrich Grober: Ein naturverbundenes Leben führen heißt ja nicht zuletzt: Sich so gut wie man kann in die Zyklen und Rhythmen von Natur und Kosmos einzuklinken. Und da gilt: jedes Ding hat seine Zeit. Zur Ruhe kommen – das gehört für mich in die Winterzeit. Nicht nur, aber ganz besonders. Die Natur macht uns das vor.

OW: Und das hat mit loslassen zu tun?

UG: Unbedingt. Für Meister Eckhart, den mittelalterlichen Mönch und Philosophen der Gelassenheit, war „ruowe“ ein hohes Gut. Die stoischen Philosophen vor ihm feierten „tranquillitas animi“, die Seelenruhe. Und die findet man nur, wenn man aus dem Rattenrennen der Beschleunigung zumindest für bestimmte Zeiten aussteigt. „Gelassen“ kommt von „lassen“. Ich lasse los in dem Sinne, dass ich zu Beginn des Winters bewusst versuche, meine Aktivitäten spürbar zu reduzieren. Ob es immer gelingt, ist eine andere Frage. Aber ich sehe zu, dass ich die meisten Aufträge vor der Adventszeit abwickeln kann. Und warte bis lange in den Februar hinein mit neuen Terminen. In den Wintermonaten schlafe ich dann mehr, lese mehr, höre konzentrierter Musik, nehme mir Zeit, die eigenen Dinge zu ordnen. Die äußerlichen, angefangen vom Aufräumen des Schreibtisches, bis zu den geistigen: die Reflexion und Auswertung von Erlebnissen und Erfahrungen, die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Erinnerungen. Ich lasse das Jahr Revue passieren.

OW: Schön, wenn man die Muße dazu hat!

UG: Ich weiß, an diesem Punkt bin ich privilegiert. Wer am Fließband malocht, hat diese Freiheit nicht. Aber auch der hat zumindest in seiner Freizeit Spielräume. Worum es im Grunde geht: Den Schwerpunkt von der vita activa zeitweise zu verlagern hin zur vita contemplativa. Das „tätige“ Leben und das „beschauliche“ Leben sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Und „contem- plativa“ – beschaulich – ist nicht einfach „gemütlich“. Das hat auch etwas mit „Schauen“ zu tun, mit Visionssuche. Das ist ja keineswegs gleichbedeutend mit vita passiva.

OW: Was bedeutet dann der Winter für Sie persönlich?

UG: Ich werde häuslicher. Sich einigeln, sich einspinnen, sich verpuppen – so könnte man das in Anlehnung an Praktiken in der Tierwelt nennen.

OW: Sie werden zum Stubenhocker?

UG: Das nicht. Ich beginne sommers wie winters meinen Tag mit einem halbstündigen Waldlauf. Bei jedem Wind und Wetter. Und die hundert Schritte erst zum Gartentor und dann zur Laube, wo meine Joggingschuhe lagern, gehe ich barfuß. Auch bei Eis und Schnee.

OW: Wandern Sie auch im Winter?

UG: Hin und wieder, gut dosiert und getimed, brauche ich auch in der dunklen und kalten Jahreszeit das Kontrasterlebnis. The great outdoors, das große Draußen, die unbändige freie Natur. Die ist ja im Winter besonders rau und unbändig. Draußen zu Hause – so ein Motto lässt sich ja nicht auf die Komfortzonen des Jahres, die heiteren Tage von Mai bis September, beschränken.

OW: Der Wald steht schwarz und schweiget, entlaubt hebt sich das feinverästelte Kunstwerk der Baumkronen messerscharf gegen den Winterhimmel ab – können wir unsere innere Unruhe durch diesen Anblick zeitwei se meistern und besänftigen?

UG: Nicht nur durch das Schauen. Auch die Hörräume verändern sich im Wechsel der Jahreszeiten. Ich erinnere mich an eine mehrtägige Schneeschuhwanderung im Sumava, dem Böhmerwald. Eine Etappe verlief ein Stück entlang des alten Schwarzenbergi- schen Schwemmkanals, in dem früher Holzscheite geflößt wurden. Zwischen Fichtenstämmen und Uferböschung stapfte ich durch unberührten Schnee. Die Stille des Winterwaldes nahm mich auf. Es ist nicht die lebendige Stille des Sommerwaldes. Die ist immer durch Vogelstimmen, Insektensummen, Windrascheln und plätscherndes Wasser grundiert. Diese hier ist abgrundtief. Unter und neben deinen Atemzügen werden dein Herzklopfen und dein Pulsschlag hörbar. Beim monotonen Gehen durch das weiße Schweigen kann man in sich selbst einsinken. So kommst du zur Ruhe. Abends dann, in der Pension, bei dampfendem Tee und belegten Broten, der Blick über das weite, verschneite Moldautal im Licht des aufgehenden Februar-Vollmonds. Unter dem Fenster schnürte ein Baummarder am Holzstapel vorbei ...

OW: ... Da kommt man den Geheimnissen des Winters in den mitteleuropäischen Breiten sehr nahe ...

UG: Zwei Tage später stieg ich in der Morgensonne auf meinen Schneeschuhen aus dem Tal zum Plöckensteiner See hinauf. Um mich herum begannen bei jedem Schritt Myriaden Schneekristalle wie Diamanten zu funkeln. Die glitzernden Flächen ringsrum, der weiße Wald, der blassblaue Himmel – all das ist ebenso magisch wie der Zauber einer Frühlingsnacht zur Zeit der Baumblüte oder des Laubaustriebs. Ich brauche alle vier Jahreszeiten – und die Übergänge.

OW: Wo und wie vermittelt uns Winterzeit wirklich Ruhe? Ich denke dabei daran, dass bereits dieser Tage das Getöse um das große Fest an Lautstärke zunimmt.

UG: Darauf muss man sich ja nicht einlassen. Warum nicht – gelassen – seine eigene vorweihnachtliche Umwelt kreieren? Das ist auf engstem Raum möglich: Selber backen, Kerzenlicht, alte Musik hören, eine Teezeremonie – das alles kostet nicht viel, oder? Und versetzt einen zuverlässig in die Stimmungen, die man benötigt, um runterzukommen. Das schließt überhaupt nicht aus, dass man auch mal einen Weihnachtsmarkt besucht, wenn einem danach ist. Man kann ja einigermaßen einschätzen, wo es sich lohnt.

OW: Gelassenheit – ein Modewort des 21. Jahrhunderts. Die nächste wenn auch verklausulierte Optimierungstechnik mit Anleihen an die eorie der glücklichen Kühe?

UG: Naja, das scheinbare Modewort von heute ist eine Prägung aus der Sprache der mittelalterlichen Mystik. Dass unsere vor- nehmsten Begriffe ausgehöhlt, verwässert werden, in das Feuerwerk der Reklamesprache geraten, ist nichts Neues. Gelassenheit ist nicht Wellness, ist kein käufliches Produkt, ist erst recht kein „dickes Fell“ gegen all das Schändliche, das sich unter unseren Augen in der Welt abspielt.

OW: Sondern?

UG: Meister Eckhart hat den Begriff um 1300 in die deutsche Sprache eingeführt. Er verbindet das antike Wortfeld von Seelenruhe mit den Ausdrücken, in denen das Neue Testament zur Nachfolge Christi aufruft. Omnia relinquere. Alles hinter sich lassen, alliu dinc lâzen, um Christus zu folgen. Dieses relinquere übersetzt Eckhart mit lâzen. Und darum geht es zu allererst, auch heute noch, auch wo der Bezug zur Religion verlorengegangen ist: Dinge, die bisher zum eigenen Leben gehörten, hinter sich lassen können, sie sein lassen, sie unterlassen, sich davon abkehren, loslösen und innerlich befreien. Sich nicht von den vielen Dingen und deren Besitz abhängig machen. Entbehren können, was einem nicht not tut. Sich nicht von den vielerlei Einflüssen, die von außen auf Geist und Seele einströmen, ablenken lassen. Zu diesen Dingen gehören wesentlich auch das eigene Ego und dessen Prägungen, Fixierungen, Neigungen und eingeschliffenen Gewohnheiten. Alles auf den Prüfstand stellen können. Einfach loslassen können. So wie man Ballast abwirft. Die ruowe ist eine Folge von lâzen. „Ruhe“ meint nicht eine Zeit des Ausruhens, etwas Passives, sondern einen Zustand des Bereitseins zur Begegnung mit etwas Höherem.

OW: Kann uns die Haltung der Gelassenheit bei der Überwindung von Erschöpfung und Überdruss am Alltag helfen, uns vor dem Kollaps der täglichen Routine zu bewahren?

UG: Es geht ja gerade um die Überwindung der alten Routinen, also der Macht der gewohnten Muster, wie wir produzieren, kon- sumieren, zusammenleben. Die hinter sich zu lassen, um sich auf etwas Neues „einlassen“ zu können. Die Abkehr von weltlichen, materiellen Dingen ist für Meister Eckhart kein Selbstzweck. Sie schafft bloß den Raum für die Hinwendung zu anderen, immateriellen Dimensionen des Daseins.

OW: Herr Grober, taugt der Winter als Lehrmeister der Gelassenheit? Lässt Sie der Winter gelassener werden?

UG: Ich arbeite daran. Jeden Winter von neuem. Und da gilt natürlich der schöne Satz von Samuel Beckett: „Immer wieder versucht. Immer wieder gescheitert. Egal! Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Und so gelingt dann auch manches.


Das Interview mit Ulrich Grober führte Michael Sänger.