Tag 1
Ende August 2015: Um 09:00 Uhr startete der Airbus in Kopenhagen, um 10:00 Uhr stehe ich vor dem Flughafenge bäude in Kangerlussuaq. Praktisch, wenn sich Flugzeit und Zeitverschiebung aufheben. Kangerlussuaq ist das Einfallstor nach Grönland: Von hier aus fl iegen fast alle Passagiere weiter in die Orte entlang der tausende Kilometer langen und stark zerklüfteten Küste. Da es zwischen den Orten keine Straßen gibt und Schi spassagen zeitraubend sind, dienen Flugzeuge und Helikopter als Taxi.
Für mich ist Kangerlussuaq Ziel und Start zugleich. Es dürfte weltweit einzigartig sein, dass ein Wanderweg unmittelbar an einen Flughafen angebunden ist. Ganz inder Nähe ist ein Supermarkt, wo man sich mit Proviant ausstatten kann – oder mit Gaskartuschen. Ich bräuchte welche mit Schraubgewinde. Leider ausverkauft... Egal. Die erste Etappe – 14 km zur Forschungsstation Kellyville – ist eine öde Schotterpiste und so ziehe ich das eine Taxi vor. Als ich aussteige, gibt mir ein deutlich erkennbarer Pfad die Richtung vor. Meinem „Juhuuu!“ folgen endlich die ersten Schritte. Heute will ich 17 km zum See Quarlissuit wandern, an den 22 kg schweren Rucksack muss ich mich noch gewöhnen. Die Orientierung ist dank einiger Inuksuk (Steinmännchen) sowie markanter Wegemarken problemlos. Die geringen Höhenmeter lassen mich zügig vorankommen. Die hügelige Landschaft ist dicht mit Kriechweiden, Rauschbeerbüschen, Heide, Moos und Flechten bedeckt. Alles ist grün, von Herbst noch keine Spur. Zahlreiche Seen locken mit glasklarem Wasser, viele überraschen mit Sandstränden und am Quarlissuit gibt es perfekte Zeltplätze. Weil es lange hell ist, laufe ich aber noch 7 km zum nächsten See, dem Amitsorsuaq, und schlage hier mein Lager auf. Bald spüre ich deutlich den vom Inlandeis kommenden kalten Wind und mache es mir im Schlafsack bequem.

Tag 2
Der Tag beginnt mit Sonnenschein. Der Arctic Circle Trail führt am südlichen Seeufer entlang, 25 km fast ohne Höhenmeter. Plötzlich scheint der Trampelpfad an riesigen Granitfelsen zu enden. Ein Felssturz hat Brocken bis in den See fallen lassen. Mit Bedacht steige ich auf und ab. Ein Fehltritt könnte fatale Folgen haben, aber bald habe ich wieder den Trampelpfad unter den Sohlen. Der führt mich zu einem verlassenen Kanucenter. Das Kanugeschäft funktionierte wohl nicht, aber die Hütte ist gut gepflegt und die zurückgelassenen Kanus dürfen offziell genutzt werden. 5 km weiter wartet ein einzigartig schöner Platz zum Zelten am Seeufer auf mich. Schlafenszeit.

Tag 3
Am nächsten Morgen sind die aufziehenden Wolken unübersehbar. Keine halbe Stunde später bin ich unterwegs und überquere den vom Amitsorsuaq abfließenden Bach. Brücken und Stege gibt es nicht, also muss ich durchs Wasser waten oder von Stein zu Stein hüpfen. Die Wolkendecke wird dichter, der matschige Pfad verliert sich immer wieder in Feuchtwiesen. Nach einem kurzen Abstieg raste ich am See Kangerluatsiarsuaq – an einem von Wollgras gesäumten Sandstrand. Danach schleppe ich mich die 350 Höhenmeter ins Fjäll hinauf. Oben angekommen, erö net sich ein umwerfender Blick ins Tal mit dem See Tasersuaq. Vor mir erstreckt sich eine Hochfläche mit zahllosen Seen. Hier fühlen sich nicht nur die Schneehasen wohl. Mein Wanderführer empfiehlt die Ikkatooq Hütte als Etappenziel. Nach knapp 21 km nehme ich diese Empfehlung gerne an.

Tag 4
Mit 13 km habe ich die nächste Etappe kürzer geplant. Sofort geht es zwar nur kurz, aber sehr steil bergan. Dabei fängt mein Rucksack plötzlich bedenklich an zu schwanken. Auf einer schmalen Felsstufe stehend, muss ich schnell Gewicht ausgleichen, um nicht den Halt zu verlieren. Das war knapp. Oben angekommen, sehe ich das Malheur: Der Brustriemen ist gerissen. Und das vor dem schwierigsten Fluss. Mit Blick auf den zu furtenden Ole’s Lakseelv wandere ich lang und steil bergab, teilweise über glatte Felsen und rutschigen Boden. Der Rucksack macht die Sache nicht einfacher. Ich quere das Tal zur gegenüberliegenden Bergkette. Kurz davor stehe ich dann vor dem Fluss Ole’s Lakseelv. Das Furten hier kann im Juni/Juli gefährlich bis unmöglich sein. Daher wurde eine Brücke gebaut, die ist aber in einiger Entfernung. Jetzt, Ende August, ist das Furten einfacher, erfordert aber immer noch Vorsicht. An einer gün- stigen Stelle verstaue ich Karte, GPS-Gerät und Wanderführer, tausche Wanderschuhe gegen Sandalen, schultere den Rucksack – und vergesse, die Wanderschuhe oben drauf zu packen. Wieder runter das schwere Ding? Ach Nö. Schuhe in die Hand und los. Etwa in der Mitte des Flusses rutscht ein Fuß weg. Zuerst wackelt der Rucksack, dann ich. Das Wasser reicht mir schlagartig bis zur Hüfte und beim reflexartigen Ausgleichen flute ich die Schuhe. Glanzleistung! Auf der anderen Flussseite setze ich meinen Weg stoisch fort
– jetzt in Sandalen und bei Nieselregen. Bis zur Hütte Eqalugaarniarfik hoch über dem Maligiaq Fjord sind es 1 1⁄2 Stunden. Kaum habe ich sie erreicht, fängt es richtig an zu schütten. Glück gehabt. In der Hütte, wohl des Öfteren von Jägern genutzt, gibt es einen Petroleumofen – und Petroleum! Nochmal Glück gehabt. Schnell ist es warm, ich kann Hose und Schuhe trocknen und heißen Kaffee genießen. Auf dem Tisch ackert eine Kerze und ich betrachte die über den Fjord ziehenden Wolken. Ich bin glücklich.

Tag 5 und 6
Der nächste Morgen beginnt mit idealem Wanderwetter. Gleich nach dem Start steige ich kräftig bergan. Die Berge gewinnen an Höhe, manche Gipfel tragen Schnee. Kriechweiden und Feuchtwiesensind meine ständigen Begleiter, dazwischen zahlreiche Seen. Nach einer leichten Passage erreiche ich, noch bevor der Regen wieder einsetzt, die Hütte Innajuattoq I. Ich schlafe unglaubliche 13 Stunden, in denen kräftig regnet. Weiter geht’s, 15 km Richtung Südwesten, bei Nieselregen und frischem Westwind. Das verheißt nichts Gutes. Die Kriechweiden sind nun mannshoch. Tiefhängende Wolken sorgen für eine mystische Stimmung, als ich von einem heidebeherrschten Plateau in ein enges Tal absteige. Dabei werde ich von Rentieren beäugt. Inmitten des Tales befindet sich mein Etappenziel, die Nerumaq Hütte. Sie ist auch ein Rückzugsgebiet für Mosquitos und bis Ruhe herrscht, gibt es einige Jagdszenen. Nachts öffnet der Himmel alle Schleusen und der Sturm rüttelt dermaßen an der Hütte, dass ich froh um deren Stahlseilfixierung bin. Ich rutsche tiefer in meinen Schlafsack und schlafe schnell wieder ein.

Tag 7
Am späten Morgen ziehe ich weiter. Wolken und Nebel lassen nicht viele Ausblicke zu. Trampelpfade haben sich in Bäche verwandelt. Sturmböen reißen an Jacke und Rucksack und treiben den Regen unter dessen Regenschutz. Die Kriechweiden sorgen für zusätzliche Nässe, die stark aufgeweichten Feuchtwiesen nehme ich nur noch zur Kenntnis. Zwei Flüsse muss ich queren. Ich zurre den provisorisch geflickten Brustgurt fest und erreiche langsam und konzentriert die jeweils andere Flussseite. Die anschließenden Feuchtwiesen sind unwegsam, die Orientierung ist fordernd. Als ich auf einer Anhöhe die rot-weiße Hütte Kangerluarsuk Tulleq erblicke, kann ich nicht ahnen, dass sich meine Freude mit Betreten der Hütte noch steigern wird. Ich  finde eine gefüllte Gaskartusche mit Schraubgewinde! Jetzt einen heißen Kaffee und ab in den Schlafsack. Der hat leider Nässe abbekommen. Also nutze ich das Gas erst einmal, um ihn zu trocknen. Und tatsächlich reicht es auch gerade noch so für einen Kaffee.

Tag 8
Es scheint sich ausgeregnet zu haben. Ich starte früh, die letzte Etappe, 23 km mit einigem Auf und Ab, ist nicht zu unter- schätzen. Zunächst sabotiert dichter Nebel die Aussicht auf den Fjord Kangerluarsuk Tulleq. Später präsentiert sich mir ein unbe- schreiblicher Ausblick in ein sich tief vor mir erstreckendes Tal. Mir ist, als würde ich ein Gemälde betrachten oder das Modell eines Landschaftsarchitekten. Ich sauge diesen Moment ganz bewusst auf, bevor ich unter dem Geheul unzähliger Schlittenhunde Sisimiut erreiche. Die Autos und „vielen“ Menschen, mit 6.000 Einwohnern ist Sisimiut die zweitgrößte Stadt Grönlands, irritieren mich nach der Einsamkeit der letzten Tage. Durch die Stadt gehe ich zum Vandrehjem und bin froh, wohlbehalten am Ziel zu sein.

Zurück nach Kangerlussuaq iege ich mit einer kleinen Propellermaschine und wandere dort noch zum Sugar Loaf (Zuckerhut): 8 km auf einer breiten Schotterpiste, die zum 25 km entfernten Ice Cap, dem Inlandeis, führt. Ein Pfad führt 300 Höhenmeter hinauf auf das Plateau des Sugar Loaf. Ich bin nicht allein hier, ein Inuit schaut zur Eiskappe hinüber. Auf englisch erklärt er mir, dass er aus dem Norden nach Kangerlussuaq gekommen sei, nun im hiesigen Supermarkt arbeite und zum ersten Mal hier oben sei. Ich schaue ihn an und sage, dass wir jetzt etwas gemeinsam haben. Wir lachen und blicken über die inzwischen herbstlich bunt leuchtenden Büsche hinüber zum Eis.

GRÖNLAND – NÜTZLICHE INFOS

ANREISE: Von Kopenhagen per Air Greenland nach Kangerlussuaq. Die Preise für den knapp fünfstündigen Flug sind keine Schnäppchen, frühzeitiges Buchen zahlt sich aus. Empfehlung: Kombitickets mit SAS ab Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg und München.
ZEITVERSCHIEBUNG: 4 Stunden
EINREISE: Aktuell ist für deutsche Staatsan- gehörige der Personalausweis ausreichend. BESTE REISEZEIT: Mitte Juni bis Anf. Sept. DEUTSCHE BOTSCHAFT: Stockholmsgade 57, 2100 Kopenhagen, Tel. +45/(0)35459900, info@kopenhagen.diplo.de
Grönland ist ein autonomer Teil des Dänischen Königreiches und kein EU-Mitglied
GELD: Währung: Dänische Krone, 100 Kronen ca. 13,40 Euro. Das Preisniveau ist hoch.

TIPPS VON THORSTEN HOYER:

• Der Arctic Circle Trail ist nicht durchgängig markiert. Bei gutem Wetter ist die Orientierung zumeist problemlos. Das Wetter kann in kürzester Zeit umschlagen und die Orientierung ohne Karten und GPS extrem erschweren bzw. unmöglich machen.
• Die gesamte Ausrüstung inkl. Verpflegung muss mitgenommen werden, unterwegs gibt es keine Einkaufsmöglichkeiten.
• Die Übernachtung in Hütten ist absolute Glückssache, grundsätzlich mit dem Übernachten im Zelt rechnen.
• Unbedingt genügend Zeit kalkulieren, es kann passieren, dass man aufgrund des Wetters mal festsitzt. Immer auch mind. einen Puffertag in Sisimiut einplanen, bei ungünstigem Wetter können Flüge unmöglich werden.
• Zutraulichen Polarfüchsen unbedingt aus dem Weg gehen (Tollwut)!

KARTE UND WANDERFÜHRER:

Wanderkarten Kangerlussuaq (Karte 08), Pingu (Karte 09) und Sisimiut (Karte 10), 1:100.000, je 18,00 Euro, Geobuchhandlung Kiel, www.geobuchhandlung.de
Wanderführer „Arctic Circle Trail“
von Meike Woick und David Kuhnert,
Conrad Stein Verlag, 12,90 Euro,
ISBN 978-3866861374. Das deutschsprachige Standardwerk – sehr empfehlenswert!