Heimweh und Sehnsucht bilanzieren in gewisser Weise Verlust, das Fehlende, das Abwesende oder Verlorene. Sie sind untrennbar verbunden mit emotional hochgradig aufgeladenen Lebensgeschichten. Wandern, die neue Wanderlust, ist ein Schlüssel zur Überwindung (temporär oder dauerhaft) der kollektiv wie individuell verspürten Ohnmacht im Alltag, die sich in Burnout-Symptomen manifestiert. Der Philosoph Dieter Thomä ist sich sicher: „... dann droht ein seelischer Ermüdungsbruch!“ (Jahreskongress für Psychosomatik März 2018) Wandern nach Nostalgia, die Renaissance einer alten Kunst, verspricht nichts weniger als das: Zeit für die Seele.

Sehnsucht? Das Wort kommt vom mittelhochdeutschen „krankheit des schmerzlichen verlangens“ (Grimm’sches Wörterbuch) und meint ein inniges Verlangen nach einer Person, einer Sache, einem Zustand oder einer Zeitspanne. Das Fehlen, Ausbleiben oder die Aussichtslosigkeit des Verlangens ist dabei mit einem schmerzlichen

Gefühl verbunden. Der Idealismus interpretierte die Sehnsucht als schöpferische Kraft. Fichte schrieb: „Ein Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden und zu verschmelzen.“ Die Romantik erhöhte das Verlangen in der „Suche als Finden, dem Streben als Erfüllung“ (Historisches Wörterbuch). Die Sehnsucht wurde für viele Dichter der Romantik zum zentralen Motiv. In Eichendorffs Homo viator ist der Reisende durch die Welt unterwegs zum ewigen Zuhause. Selbst Goethe, im West-östlichen Divan, spricht darin von der Sehnsucht, die auf das Unerreichbare gerichtet sei. Für Sigmund Freud gehört die Sehnsucht zu den Trieben, die auf Erlebtes und Vergangenes zielen und ins Unbewusste gehören. Heimweh wiederum, nach dem Psychologen Karl Marbe kann es Gebildete wie Ungebildete gleichermaßen erfassen, ist die symbolische Rückkehr oder Vergegenwärtigung von Ereignissen, Erlebnissen, Räumen und Gefühlen, denen ein hoher Befriedigungswert innewohnt. Heimweh, so Freud, ist eine rückwärtsgewandte Sehnsucht, eine archäologische Anstrengung (Jacques Derrida). Nach Charles Zwingmann ist Heimweh mithin ein nostalgisches Phänomen. Mal ehrlich! Haben wir nicht alle „Heimweh“ und tragen eine tiefe Sehnsucht nach erinnerten Balancezuständen, nach jenen Umständen und Bedingungen oder Orten, die uns größte Befriedigung gaben, in uns?

Nostalgia oder Heimat?

Kann man Heimat vielleicht mit der Sehnsucht nach einem Ort oder einer Erlebnisphase und ihren je-konkreten Umständen, gefiltert oder verstärkt durch das eigene Erinnerungsvermögen, als einem individuellen Narrativ, einer persönlichen, mehr oder minder illustren Lebensgeschichte oder Geschichte aus dem eigenen Leben gleichsetzen? Dann wäre Nostalgia sinnbildlich jener Rahmen, in dem sich der Mensch vor „Heimweh“ nach einem geliebten „Stück Heimat“ oder einem Gefühl rundum ausbalancierter Vertrautheit und Überschaubarkeit verzehrt. Im Grunde gab es die nostalgische Sehnsucht schon in der Antike (z.B. Arkadien als Topos des Goldenen Zeitalters) und in der in allen Weltregionen existenten religiösen Elegie vom Paradies. Zugleich wird in der Nostalgie auch der Gegenpol, die Utopie, konserviert, „... so dass sich Nostalgie und Utopie als kommunizierende Röhren des Prinzips Hoffnung vorstellen lassen, mit dem einst Ernst Bloch das psychologische Grundgesetz der menschlichen Natur (zu) umreißen ... glaubte.“ (Udo Leuschner) Das Wort „Nostalgia“ schuf der eidgenössische Mediziner Johannes Hover bereits 1688 unter dem Titel „Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe“. Seit der Romantik, jenem Weltschmerz und der blauen Blume (Novalis) erscheint uns Nostalgia als Synonym für das unendliche Sehnen nach einem „Ort“, einem Zustand, wo jene Balance, jener Kindheitsgeschmack, jene freudvolle Kulisse herrscht, die uns gefühlt zur Ruhe kommen lassen könnte. Mithin ist Heimat vermutlich ein geträumter Ort im Gestern. „Heute über Heimat zu sprechen heißt vor allem, über ihren Verlust zu reden.“ (Christian Schüle) Die Suche nach Heimat, also die Suche nach Nostalgia, ist die Suche nach neuer Authentizität, Echtheit und Balance.

Spiegel der Seele

Was wir suchen? Orte und Zustände, wo wir angstfrei agieren können. In einer vertrauten Umwelt, deren Symbolsprache, deren Wertesystem und Verhaltensmuster wir verstehen und anerkennen. (Lauer & Wilhelmi) Der Blick nach Nostalgia ist der Blick in einen solchen erinnerten, weil erlebten und ersehnten Bezugsrahmen. Die beschleunigte Welt, die höchste Anpassungsfähigkeit bei gleichzeitig steigender Entwertung der erworbenen Befähigungen und Kenntnisse fordert, lässt die Seele immer atemloser hinter ständig wechselnden Sachzwängen herhinken. Getrieben und verunsichert fehlt uns die nötige Synchronisation von Körper, Geist und Seele. Wohltuend kann daher der Blick in die Natur, die Bewegung in der Natur sein. Die Sinnesreize aus der Natur gehen weit über die reine Faktenaufnahme hinaus. Die Perzeption, die Wahrnehmung von Sinnesreizen, wird durch das Erkennen der Symptomatiken des „Wahrgenommenen“ ergänzt. Wir erkennen den mäanderten Flusslauf bereits an dem Spalier von Uferstauden oder Schwarzerlen. Den Formationswechsel des Waldes können wir z. B. als Wechsel des Eigentümers oder der ökonomischen Zielstellung interpretieren. Es gibt jedoch eine weitere Wahrnehmungsebene, die symbolische Ebene. Sie korrespondiert mit unserem psychischen und seelischen Augenblickszustand. Wir entschlüsseln das lichte Wald- und Wiesenspiel als Ausdruck einer gewissen Heiterkeit und verbinden es mit dem eigenen Gemütszustand. Das vielstimmige Vogelorchester des Morgens charakterisieren wir als Aufbruch und Beginn. Der Fluss, an dem wir über Stunden entlangwandern, wird zum Fluss des Lebens, die Wanderung zur Entdeckungsreise im eigenen Lebenslauf. Natur wirkt somit als Spiegel für die Seele und, noch wichtiger, gibt ihr Raum und Zeit aufzuholen.

Wandern nach Nostalgia

Wandern, eine alte Kulturtechnik ohne Relevanz für diese Gesellschaft? Nein, sagt Dirk Schümer und führt aus: „Die philosophischste aller Fragen: Wie geht’s? Die abgründigste aller Antworten: Geht so. Nirgendwo besser als auf Deutsch lässt sich der Sinn und das Gelingen der Existenz aufs Wandern reduzieren. Das ist mehr als ein linguistischer Zufall. Und das Dasein als langen Marsch ins Offene zu beschreiben, läuft keineswegs auf platten Religionsersatz hinaus, der alle Probleme und Freuden mys-tisch verbrämt. Das Gegenteil ist wahr: Wandern ist ganz real seit einigen Jahren ein Trendsport der Intellektuellen, der Dynamischen und der Jungen.“ Wandern ist vielmehr Lebenskunst und Selbsterfahrung. Die alte Kunst des Wanderns ist heute der Einspruch gegen das Diktat der Beschleunigung. Statt Stau im Kopf und auf den Straßen geht der Wanderer neue Wege. Er sucht die Exotik der Nähe – und findet sich selbst. Ulrich Grober: „Der Kopf wird frei. Und mit ihm der ganze Mensch.“ Das Wandern nach Nostalgia ist kein nostalgisch verbrämter Leimpfad zurück, sondern die fußläufige Annäherung an ein gefühltes Gleichgewicht. Sich im natürlichsten aller Tempi, dem Gehen, in der durchwanderten Natur spiegeln. Natur- und Seelenraum verschmelzen beim Wandern, weil sich die Türen der Wahrnehmung wie von selbst öffnen. „Das Ziel einer Wanderung ist nicht ein topografischer Punkt am Ende eines Weges, sondern der Augenblick, wo die Pforten der Wahrnehmung sich weit öffnen und man eins wird mit dem Bild seiner Sehnsucht.“ (Ulrich Grober)