Ein Raunen fährt durch die Baumwipfel. Das Kronendach des Hallenbuchenwaldes über mir wiegt sich im Wind. Aus Dutzenden von Vogelkehlen tiriliert, pfeift und flötet es. Ein wohlklingendes, vielstimmiges Orchester. Meine Seele wippt im Takt. Diese seelenstreichelnde Musik strömt durch das Cerebellum und das limbische System. Dort, so der Neurowissenschaftler und Musik-forscher Daniel Levitin, sitzen die tiefen sozialen, urzeitlichen und größtenteils abstrakten Gefühle. Wobei, wo Musik beginnt und mehr als Geräusch ist, beurteilt jeder Hörer anders. Es ist wie beim Wald. Waldbad oder Kahlschlag, Sehnsuchtsort oder Erlösquelle, Mythos oder Kapitalanlage? 

 

Hallraum der Seele (Joseph von Eichendorff), Siegfrieds Waldbad im Drachenblut oder Hermann der Cherusker, der die römischen Legionen des Varus im Wald meuchelte – wir Deutschen haben eine tiefe Verbindung zum Wald. „Der Wald steht schwarz und schweiget“, schrieb Matthias Claudius, und Ludwig Tieck erfand die Waldeinsamkeit als jenen entlegenen Ort, wo der getriebene Mensch zu sich finden könne. In 92 der über 200 Geschichten aus der Grimm’schen Sammlung von „Kinder- und Hausmärchen“ hat der Wald eine tragende Rolle. Waldgeschichten in der Literatur, Wald in der Malerei (Albrecht Altdorfer, Caspar David Friedrich). „Der Wald ist so deutsch wie Bier und Brot“, schreibt Henning Sussebach im Zeit-Dossier vom Februar 2016. 

 

Von großen und kleinen Zahlen 

Die Fähigkeiten unserer hölzernen Freunde sind erstaunlich. Eine 50-jährige Fichte, Umfang in Brusthöhe 50 Zentimeter, bei einer Höhe von 15 Metern liefert etwa einen Kubikmeter Holz, das wäre ein Brennwert von 180 Litern Heizöl, würde für die Produktion von 300 Kilogramm Papier oder 1.000 Quadratmeter Furnierholz ausreichen. Ein Hektar Wald (10.000 Quadratmeter) filtert jährlich rund 50 Tonnen Feinstaub und Ruß aus der Luft. Er bindet zudem zehn Tonnen Kohlendioxyd. Eine 100-jährige Buche setzt stündlich 1,7 Kilogramm Sauerstoff frei, das entspricht der Menge Sauerstoff, die 50 Menschen pro Stunde benötigen. Mit dem deutschen Wald, er bedeckt zu einem Drittel die gesamte Landesfläche, geht es seit dem Waldsterben wieder bergauf. Mit 42 % Waldanteil liegen Hessen und Rheinland-Pfalz an der Spitze, Schleswig-Holstein kommt gerade einmal auf 11 % Waldanteil an der gesamten Landesfläche. 700.000 Menschen verdienen nach Angaben der Statistiker ihr Geld mit Holz. Sie erwirtschaften jährlich 120 Milliarden Euro. 

Themenwechsel: Naturverjüngung. Während Bucheckern und Eicheln meist unter ihre Mutterbäume fallen und die Keimlinge im geschützten Waldklima aufwachsen können, erfolgt die Verbreitung bei dem Pionierbaum Vogelbeere durch Vögel. Es bleibt dem Zufall überlassen, wo der Vogel die herbe Frucht frisst und die Samen samt Düngepaket wieder ausscheidet. Beachtlich ist, dass die Samenkörnchen der Vogelbeere bis zu fünf Jahre in Warteposition verharren können. Erst wenn die Wuchsbedingungen passen, beginnt der Samen zu keimen. Eine geschlechtsreife Buche, das passiert im zarten Alter von 80 bis 150 Jahren, lässt im Turnus von etwa fünf Jahren jeweils bis zu 30.000 Bucheckern auf die Erde plumpsen. Erreicht so ein Urwaldriese dann sein biologisches Ende, das liegt bei etwa 400 bis 500 Jahren, hat er im Laufe seines Lebens 1,8 Millionen Bucheckern gebildet. Das reicht allerdings gerade, um einen einzigen halbwegs veritablen Nachkommen zu zeugen. Das Verhältnis ist bei Pappeln noch aberwitziger. Statistisch betrachtet schafft es gerade einmal eines von einer Milliarde mit Flaumhaaren per Flugpost durch den Wind verfrachteten Samenkörnchen zum properen Stammhalter. 

 

Von oben und unten 

Während oben, im Kronendach der Laubbäume mit 600.000 bis 800.000 Blättern pro Eiche oder Buche, auf Teufel komm raus Fotosynthese betrieben wird, betreiben die Wurzeln der gewaltigen Riesen unterirdisch ein geschäftiges Geben und Nehmen mit Pilzen. Seit Jahrmillionen bevölkern Pilze die Wurzeln von Pflanzen und Bäumen. Sie können keine Fotosynthese betreiben, haben Zellwände aus Chinin und entwickeln kilometerlange Pilzfäden, die in die Feinwurzeln der Baumgiganten hineinwachsen. Sie versorgen den Baum mit Wasser, Mineral- und Nährstoffen, Pflanzenhormonen und filtern Schwermetalle und andere Gifte heraus. Im Gegenzug versorgt sie der Baum mit reichlich Zucker und Kohlenhydraten. Gut ein Drittel des produzierten Zuckers „bezahlt“ ein Baum seinen unterirdischen, lebenslangen Gefährten. Über ihre Pilzgeflechte werden übrigens auch Artgenossen in der Umgebung versorgt, sollten diese aufgrund ihres speziellen Standortes Mangel leiden. 

Noch wundersamer wird die Unterwelt, dieses riesige Geflecht aus Wurzeln und Pilzen, wenn man erfährt, dass dank chemischer und elektrischer Signale der Waldboden förmlich lebt. Nach Peter Wohlleben (Das geheime Leben der Bäume) handelt es sich hierbei um eine Art „wald-wide-web“, ein Internet des Waldes. Forscher der Universität in Bonn haben elektrische Signalaktivitäten im Übergangsreich der Wurzeln von Bäumen lokalisieren können. Erstaunlicherweise ändern Wurzeln bereits die Wuchsrichtung, bevor sie auf unüberwindbare Hindernisse, wie etwa Felsgestein stoßen. Sie leiten Botenstoffe über die Pilzpartner an Artgenossen in der Umgebung weiter, und eine Schweizer Forscherin ist davon überzeugt, dass einer der unterirdischen Kommunikationswege über Knack-signale erfolgt. Es klingt wie ein Aprilscherz, doch die Studie von drei Bioakustikern, kürzlich im renommierten Fachblatt „Trends in Plant Science“ erschienen, verfasst von Daniel Robert (Bristol), Stefano Mancuso (Florenz) und Monica Gagliano (Perth), bestätigt ein messbares Knacken im Untergrund. An den Wurzeln von jungen Getreidepflanzen beobachtete Gagliano wiederkehrende, regelmäßige Knackgeräusche im Bereich von rund 220 Hertz. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass sich im Frequenzbereich von 220 Hertz die Pflanzenwurzeln bei ihrem Wachstum nach der akustischen Quelle ausrichten. „Pflanzen haben folglich sensible ,Organe‘, die auf Schallwellen reagieren. Das dürfte kein Zufall sein, glauben die Forscher. Die Knacklaute sind ein Kommunikationssignal zwischen zwei Pflanzen.“ (Geo, 4/2018) 

Neben Pilzen beleben aber auch Hornmilben, Asseln, Springschwänze, Ameisen und Regenwürmer den Waldboden. Sie zersetzen Biomasse zu Humus, lockern und belüften den Waldboden und verbuddeln gut die Hälfte des Kohlenstickoxydeintrages und speichern Wasser. Sie sind die unsichtbaren Diener eines gesunden Waldes. In einem Kubikmeter Erdreich tummeln sich mehrere Millionen Fadenwürmer, Milben und Springschwänze. Hinzu kommen 400 Regenwürmer und etwa acht Billionen Mikroben. Unsichtbar für den Menschen, unverzichtbar für den Wald. 

 

Waldbad und Therapiewald 

Welche Wohltaten bietet nun der Wald? Neben seelischem Wohlbefinden, Aufhellung der Stimmung reduziert z. B. das gedämpfte Licht eines Laubwaldes die Ausschüttung von Stresshormonen. Der Geruchssinn wird mit neuen Eindrücken versorgt, dazu gehören ätherische Öle und in gasförmigen Botenstoffen enthaltene Terpene. Ungewohnte Geräusche, das Rauschen der Wipfel, das Knacken des Holzes, das Plätschern des Baches, das Singen der Vögel, das Rascheln der Blätter, dringen an das menschliche Ohr. Mit einer Lautstärke von etwa 20 Dezibel erzeugt ein Wald Stille, wie sie für das menschliche Ohr als wohltuend und natürlich „still“ empfunden wird. Die taktilen Sensoren der Hände und Füße verspüren Unebenheiten, den federnden Tonus des Waldbodens, die Hände berühren die aufgerissene Rinde einer Fichte oder befühlen die silbrige Haut einer Buche. Ad hoc fährt der Mensch im Wald sein Aktivitätslevel herunter. Dabei wird z. B. das Melatonin im Blut, ein zirkadianes Hormon, das sich invers zur Lichtintensität verhält, reduziert und der Kortisonspiegel gesenkt. 

Der Geruch und der Geschmack der Kindheit lassen Bilder der Vergangenheit wieder präsent werden, die auf inspirierende Waldaugenblicke in der eigenen Vita beruhen. Der Wald bietet eine gefilterte und mit ätherischen Ölen angereicherte Atemluft, zivilisatorische Lärmquellen, selbst im stadtnahen Bereich, wirken wie durch einen Schalldämpfer reduziert. Der Wald, so Renate Cervinka von der Universität Wien, beeinflusst die physische und psychische Gesundheit von Menschen ganz nachhaltig. Der Blutdruck sinkt, der Muskeltonus entspannt sich, der Puls sinkt. In Japan und Korea gibt es seit vielen Jahren Waldkuren und Waldtherapien. Und dies seit Waldmediziner wie Qing Li feststellten, dass sich die Anzahl der Killerzellen im Blut, sie regulieren im Auftrag des Immunsystems den Abwehrkampf gegen Eindringlinge wie Bakterien, Viren, aber auch Zellentartungen, selbst nach einem Tag im Wald dramatisch erhöht. Verantwortlich dafür sind sogenannte Phytonzyden oder Terpene, antibiotisch wirkende und gasförmige Substanzen, die sowohl Blätter als auch die Rinde der Bäume bilden und zur Kommunikation mit ihrer pflanzlichen Umgebung per Duft einsetzen. In Japan und Korea weiß man, dass der Aufenthalt im Wald die Lungenkapazität und die Elastizität der Arterien steigert. 

Der Wald als kostenfreie Gesundheitsressource? Geht es nach dem Willen der Verantwortlichen im Bäderverband Mecklenburg-Vorpommern und dem Umweltministerium für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern, so werden durch die Zertifizierung von Kur- und Heilwäldern in dem Bundesland künftig neue Schwerpunkte zur Nutzung des Waldes als Therapeutikum gesetzt. Seit 2011 ist das entsprechende Landeswaldgesetz geändert und die ersten Kur-und Therapiewälder werden offensiv beworben. Die Zeit dafür ist reif. 

 

Jugend und Alter 

Je langsamer ein Baum wächst, umso stabiler ist er auch im Alter. Im Hümmeler Wald in der Eifel bei dem beliebten Sachbuchautor und Förster Peter Wohlleben sah ich bei einer seiner geführten Touren mit eigenen Augen kaum ein Meter hohe „Buchenzwerge“, die bereits das stattliche Alter von 80 Jahren auf dem Buckel hatten. Gut möglich, dass der Nachwuchs im abgeschatteten Dunkel der umliegenden Buchengiganten noch weitere 70 bis 80 Jahre warten muss, bis, etwa durch das Sterben eines der Riesenkerle, so viel Licht auf die Erde fällt, dass der Nachwuchs endlich um die Wette wachsen darf. Eine Buche bringt es locker auf 400 bis 500 Jahre Lebenszeit.

Das Problem für den bewirtschafteten Wald ist freilich, dass diese Stammriesen von normalen Sägewerken nicht mehr be- und verarbeitet werden können. Die Anlagen sind auf Stämme aus dem 60 bis 80-jährigen Umtrieb eingerichtet, wobei Fichtenholz wegen der besonderen Geradwüchsigkeit bevorzugt wird. Dass für dieses Ziel schwergewichtige Erntegeräte im Akkord eingesetzt werden müssen, birgt für den Waldboden freilich erhebliche Nachteile. Die tonnenschweren Vollernter hinterlassen metertiefe Spuren im Boden und verdichten die Erde unwiderbringlich. Außerdem bleibt kein Platz für das im Kreislauf eines Waldes (Werden, Wachsen, Vergehen) so wichtige Totholz. Gerade mal 1,9 % der gesamten Waldfläche Deutschlands sind aus der Nutzung genommen. Das erklärte Ziel bis 2020 waren 5%. Jährlich wachsen 120 Millionen Kubikmeter Holz hinzu. Entnommen werden nur 87 %, seit 2007 ist der deutsche Wald also um 7 % gewachsen. Für einen intakten Waldkreislauf wären bis zu 140 Kubikmeter Totholz vonnöten. 33 % der rund 20.000 Arten im Lebensraum Wald benötigen totes Holz. Über 100 Käferarten sind auf die Zersetzung von Totholz spezialisiert, fördern damit die Humusbildung und stabilisieren das gesamte Gleichgewicht des Waldes. 40 Jahre dauert die vollständige Zersetzung eines toten Baumes. Erst dient er als Nist- und Brutstätte, dann machen sich Kleinstlebewesen über ihn her. Diese wiederum locken Fressfeinde an, die wiederum auf dem Speisezettel anderer Lebewesen stehen. In einem Wirtschaftswald liegt der Totholzanteil meist nur bei zehn Kubikmetern oder darunter. Für eine gesunde Naturverjüngung und die Stabilisierung oder Steigerung der Artenvielfalt sind die kurzen Umtriebszeiten (vom Keimling bis zum schlagreifen Baum) ein Fluch. Dass es zwischen Ökonomie und Ökologie aber auch sinnige Lösungen gibt, stellen wir im Interview mit Lutz Fähser unter Beweis. 

 

Abgesang oder Loblied? 

Für das deutsche Gemüt bleibt der Wald, was er ist, Wirtschaftswald hin und Totholz her. Selbst Grünanlagen, die tägliche Begegnung mit dem „Grün, das Wohnen im Grünen, so belegen mehrere wissenschaftliche Studien, fördern die Gesundheit, hellen die Stimmung auf. Ob in Mitteleuropa jemals wieder flächendeckend (Anteil 60 bis 80 %) der einst standorttypische Buchenwald wachsen wird, gehört in das Reich der Utopie. Dennoch, eine bessere Kenntnis von den Waldgesellschaften, den natürlichen Kreisläufen und der nachhaltigere Umgang mit der Ressource Holz sind empfehlenswert. Angesichts des massiven Wachstums der urbanen Zentren, der grassierenden Abnahme der Schlafqualität in licht- und lärmverschmutzten Metropolen, angesichts einer Zunahme von seelischen Erschöpfungszuständen und Schlafstörungen wäre es wünschenswert, wenn dem „Hallraum der Seele“ (Eichendorff) mehr Bedeutung und Aufmerksamkeit zugemessen würde. Um es mit Bertold Brecht zu formulieren: „Weißt du, was ein Wald ist? Ist ein Wald etwa nur zehntausend Klafter Holz? Oder ist er eine grüne Menschenfreude?“ 

Hier geht es zu Teil 2: Interview mit Dr. Lutz Fähser!

Alle Fotos: © Klaus-Peter Kappest - Archiv Wandermagazin