Zustand und Befindlichkeit von Leib und Seele drücken wir sprachlich gerne in Metaphern aus. Bei Lichte betrachtet, besteht auch die Vorstellung von der Wirklichkeit aus vielen Metaphern. Sie machen das, was 86 Milliarden Nervenzellen an uns herantragen, begreifbar, übertragen implizite und explizite Gefühle, Erkenntnisse und Emotionen, Bilder und Begriffe. Der Abgleich mit dem Archiv aus Erfahrungen und Wissen lässt uns ein Stück Zukunft konstruieren.

Über das Leben existieren viele Metaphern. Dem einen erscheint das Leben wie ein Film. Andere vergleichen es mit einem Theaterstück, einem Marathon, einer Hühnerleiter oder einer Achterbahn. Mal ist es eine Safari, ein sich windender Wanderweg, ein Garten, ein Dschungel, ein Baum oder gar eine Schachtel Pralinen. Sehr beliebt und viel bemüht ist die Metapher vom Fluss des Lebens. Dabei liegt es immer am Betrachter, wohin die Assoziation des eigenen Lebens führt. Entscheidend ist, dass zwischen Metaphernbildung und Körperwahrnehmung bzw. Körpergedächtnis ein enger Zusammenhang besteht. Nach den neuronal gespeicherten, passenden Urbildern muss man meist nicht lange suchen. Abrupte Wendungen der Lebenswirklichkeit, insbesondere die verspürte Unbeeinflussbarkeit des eigenen Lebens, rührt an bekannten Gefühlen des „ausgesetzt seins“, der „fehlenden Planbarkeit“ und „Hilflosigkeit“. So ist die Assoziation des Lebens mit einem Fluss sicher eine der beliebtesten Metaphern.

Windungen und Hemmnisse

Blickt man im eigenen Leben zurück, so erscheint es keineswegs als gerade Linie mit stetiger Prosperität. Nein, hier ergab sich eine Art Stoppschild und zwang zur Richtungsänderung. Dort beschleunigten sich die Geschehnisse wie bei einer Stromschnelle. Manchmal stürzen die Protagonisten dank persönlicher Katastrophen wie über einen Wasserfall in die Tiefe. Dazwischen schoben sich störungsfreie Lebensphasen, die wie ein geradeaus strömender Fluss in Erinnerung blieben. Nur, um rasch wieder in neue Such- und Findzeiten mit vielen schwungvollen Mäandern und geringem Gefälle (Fortschritten) abzuwechseln. So manches Wehr zwingt sowohl den eigenen Fortgang als auch den Verlauf des Flusses zu Ausweichmanövern. Der Fluss des Lebens ist der Transfer der jähen, geplanten, ungewollten oder vorgegebenen Richtungs- und Geschwindigkeitswechsel im eigenen Leben auf den „Lebensweg“ eines Flusses von der Quelle bis zur Mündung.

Vom Fluss lernen

„Der Fluss ist überall zugleich, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre .... und dass es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft.“

So spricht der Fährmann Vasudevas zu Siddhartha in Hermann Hesses gleichnamigen Roman. Hesse entwickelt aus der existenten Metapher eine neue Metapher: die Metapher der Achtsamkeit und Gegenwärtigkeit. So schreibt der Nachhaltigkeitsforscher Thoms Bruhn: „Auch ich fühle mich regelmäßig eingeschüchtert von der schieren Größe der Herausforderungen, vor denen unsere Welt steht.“ Davon ausgehend, entwickelt er die Überlegung, dass der Mensch ein kleines Element in einem riesigen Organismus sei, eine Zelle. Hier könne selbst das Kleinste Großes bewirken und bliebe dabei mit allem anderen verbunden. So betrachtet, gewinnt die Metapher vom Leben als Fluss tatsächlich eine neue Qualität und Wirklichkeit. Die Erkenntnis, dass jeder Mensch gut beraten ist, im Hier und Jetzt zu leben. Das Wasser des Flusses ist überall zugleich. Der Fluss ist die Zeit, der Fluss ist das Leben.

 


Unser Heftmotto der Sommerausgabe 2020

In diesem Magazin reflektieren wir die Metapher des Lebens als Fluss in vielfältiger Weise. Ob Thorsten Hoyers fantastische Fußwanderung durch Bhutan oder die eindrucksvollen Reportagen vom Radeln an bekannten und weniger bekannten Flüssen. Ob das Werden, Wachsen und Vergehen in den Streuobstwiesen oder die wundersame Welt des Totholzes. Alles ist durchwirkt vom Fluss des Lebens. Weltweit vollführt der Fluss des Lebens eine Vollbremsung. Es ist, als zeigte uns ein bis dato unbekanntes Virus, ein biochemischer Prozess, wie anfällig unser individuelles wie gesellschaftliches Leben ist. Seien wir uns dessen bewusst, dass Flüsse keine beseelten Wesen (wie in der griechischen Mythologie) sind. Keine Entität, die wütend werden kann und dann über die Ufer tritt. So zwingt uns der biochemische Prozess des Coronavirus nur zu einer Handlung oder einem Gedankengang: Das Leben, sprich den Fluss, in andere Bahnen zu lenken. Dazu passt auch das lesenswerte Interview, das Lutz Bormann mit der Innsbrucker Professorin Helga Peskoller führte: Der Körper „denkt“ zuerst.


 

Michael Sänger

Herausgeber der Magazine Wandermagazin und OutdoorWelten