Vom Everest bis zum zertifizierten Fernwanderweg nehmen viele Serviceleistungen den Druck aus dem einstigen Abenteuer und Wagnis. Das kann schnell zu Lasten der Erlebnisintensität gehen. Gerhard Fitzthum kennt beide Extreme und wägt sie in seinem Essay gegeneinander ab.

Als man Anfang des 20. Jahrhunderts im Frühtau zu Berge zog, war das Wandern noch ein äußerst spartanisches Freizeitvergnügen: Ein kleiner Rucksack, ein paar belegte Stullen und ein Zelt waren alles, was die „Wandervögel“ für ihre Unternehmungen brauchten. Das ist lange her. Heute greift man auf zahllose Service-Angebote zurück, die einem die Naturbegegnung leichter machen. Besonders hoch im Kurs steht der Aufenthalt in Wanderhotels, wo man jeden Morgen zu lohnenden Tagestouren gefahren und abends wieder eingesammelt wird. Die Gastgeber wissen, warum sie dieses Rundum-Sorglos-Paket anbieten: Obwohl sich das lokale Wegeangebot in zwei bis drei Tagen erschöpfen würde, bleiben die Leute eine ganze Woche. Auch für den Kunden passt alles: Er logiert höchst komfortabel, ist stets mit kleinstem Gepäck unterwegs und erspart sich am Ende des Tages, eine Bleibe für die Nacht zu suchen. Kurz: Er verbringt seine Wanderferien mobil und stationär zugleich.

Banalisierung des Wanderns

Historische Steinbrücke in den Alpen © Gerhard Fitzthum

Kein Zweifel, dass diese Mixtur von Aktiv- und Genussurlaub eine tolle Sache ist. Was gibt es Angenehmeres als sich in den schönsten Tagen des Jahres möglichst viele Widerstände aus dem Weg schaffen zu lassen? Wie immer hat die Bequemlichkeit aber auch hier eine Verlustseite: Kaum ist man nach Hause zurückgekehrt, weiß man nicht mehr, wo man eigentlich gewesen ist. Durch die vielen Zwischenfahrten geht die Kontinuinität der Raumwahrnehmung verloren, die das Bild der Region rundet. Zudem reduziert sich das erregende Gefühl, etwas Neues zu erleben, auf die wenigen Stunden zwischen Wanderstart und Erreichen des verabredeten Abholpunktes. Dort sackt die Spannungskurve auf den Tiefpunkt: Statt die Freude des Angekommenseins zu genießen und sich mit der erwanderten Örtlichkeit vertraut zu machen, wartet man auf den Hotelbus, nickt bei der Fahrt ein und wacht auf dem Hotelparkplatz auf. Statt sich zu neuen Ufern aufgemacht zu haben, war man, von einem kurzen Intermezzo abgesehen, gedanklich auf dem Rückweg in die komfortable Zweitheimat des Hotels. Was auf diese Weise zwangsläufig verloren geht, ist eines der lohnendsten Elemente der fußläufigen Fortbewegung: der offene Horizont, das elektrisierende Gefühl, auf dem Weg zu sein und damit einen Spannungsbogen zu erleben, der nicht nach ein paar Wanderstunden wieder abbricht.

... und authentisches Abenteuer

Inzwischen hat die Banalisierung des Wandererlebnisses aber auch einen markanten Gegentrend erzeugt: Immer mehr Hobbygeher wollen jetzt wieder genau das tun, was sie sich dank der zahllosen Dienstleistungsangebote leicht ersparen könnten. Am Anfang dieses ‚Zurück zu den Ursprüngen‘ stand die Wiederentdeckung der Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela. Sie fand in den frühen 1990er Jahren statt und hat dafür gesorgt, dass der Jakobsweg wieder den Zulauf genießt, den er in den Jahrhunderten des Mittelalters hatte.

Den spirituellen Mehrwert, den man auf dem Jakobsweg zu erhaschen glaubt, braucht es inzwischen aber nicht mehr. Heute vergeht kaum noch eine Woche, in der die Zeitungen nicht von irgendeinem modernen Wandervogel berichten, der jenseits esoterischer Ambitionen wochen- und monatelang auf eigenen Wegen unterwegs war. Man hört von Abenteurern, die 2.700 Kilometer durch das australische Outback, 5.000 Kilometer durch die USA oder der Länge nach durch die britische Insel oder durch Deutschland gewandert sind. Viel überzeugender lässt sich das Motto „der Weg ist das Ziel“ wohl nicht umsetzen. Was solche Streckenlängen angeht, dürfte sich die Zahl der Nachahmer natürlich in Grenzen halten. Trotzdem wächst die Gruppe derer, die mit Haut und Haaren erleben wollen, was es bedeutet ohne Netz und doppelten Boden unterwegs zu sein und sich jeden Tag neuen Herausforderungen zu stellen – dem Wind, dem Wetter und den Überraschungen am Wegrand. Sie wollen die durch den Convenience-Trend entstandenen Erfahrungslücken wieder schließen, wollen nicht länger nur im Kreis gehen oder den einen oder anderen Traumpfad absolvieren, sondern sich wirklich auf den Weg machen – sich auf eine Reise begeben, die diesen Namen noch verdient.

Der große Trend: E5 & Transalp

Stille, Weite, Natur: Balsam für die Seele © Gerhard Fitzthum

Dass das Interesse an solchen Unternehmungen nicht mehr auf die kleine Selbsterfahrungsszene beschränkt ist, zeigt die unfassbare Karriere der Alpentransversale, die unter dem Kürzel „E5“ in die Geschichte des modernen Streckenwanderns eingegangen ist. Wo der 2.900 km lange „Europäische Fernwanderweg Nr 5“ beginnt und wo er endet, interessiert allerdings nur die wenigsten. Manch einer glaubt gar, dass nur das alpine Teilstück zwischen Oberstdorf und Meran oder Bozen diesen Namen trägt. Jedenfalls geht es hier fünf bis sechs Tage auf und ab, in tiefe Taleinschnitte hinunter, über fast dreitausend Meter hohe Pässe und durch drei Länder – ein großartiges Abenteuer, das kaum jemand vergessen oder gar bereuen wird.

Die damit verbundenen Herausforderungen sind allerdings nicht nur körperlicher Art. Weil jeder Wanderreiseveranstalter den Klassiker im Programm hat, geht man auf vielen Wegabschnitten in der Karawane und abends wird es eng. Die Situation ist so prekär geworden, dass der DAV-Sprecher Thomas Bucher bereits vom Begehen dieser Route warnt: „Die Hütten haben mehr Leute da, als sie beherbergen können. Man tut sich nicht unbedingt einen Gefallen, wenn man den E5 geht.“

Dass jemand, der eine Alpenüberquerung ins Auge fasst, überall mit Unmengen von Gleichgesinnten rechnen müsste, ist allerdings ein Irrtum. Da ist der E5 wahrlich einzigartig. Zwar gibt es noch einige prominente Routen, die sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit erfreuen, der Alpe-Adria- Trail, der Salz-Alpen-Steig vom Chiemgau nach Hallstadt oder der Alpannonia vom Semmering in die ungarische Pußta. Von Andrang kann hier aber nicht wirklich die Rede sein. Genausowenig wie auf den historischen Säumerrouten nach Süden, die die Schweizer unter dem Namen ‚Via Storia‘ vermarkten. Wer gar der schon 40 Jahre alten Grande Traversata degli Alpi durch das Piemont folgt, muss eine Einsamkeit ertragen können, die man im „playground of europe“ nicht mehr für möglich gehalten hätte.

info

Europäische Wandervereinigung: era-ewv-ferp.com

E1: hiking-europe.eu | www.netzwerk-weitwandern.de

Übersichtskarte: hiking.waymarkedtrails.org

Erstaunlich wenig frequentiert sind auch die meisten Teilstrecken der Europäischen Fernwanderwege, die kreuz und quer über unseren Kontinent führen. Ihre Existenz verdankt sich der Gründung der Europäischen Wandervereinigung (EWV), die am 19. Oktober 1969 auf der Schwäbischen Alb stattfand. Dort hatten die Spitzen von 14 Wandervereinen aus sechs europäischen Ländern beschlossen, zwölf Völker verbindende Wege einzurichten, von denen jeder mindestens drei Nationen durchquert.

Der Erfolg hielt und hält sich jedoch in Grenzen, zum einen sind noch nicht alle Teilstücke markiert, zum anderen war die Zeit wohl noch nicht reif. So führen die E-Wege nach wie vor ein Schattendasein, obwohl es in der Zeit der zunehmenden Europamüdigkeit ja nichts Wichtigeres gäbe, als die persönliche Erfahrung, nationale Grenzen leichtfüßig zu überschreiten. Den Vereinen fehlen aber die finanziellen Mittel, die länderübergreifenden Verbindungen so zu vermarkten, wie das in erfolgreichen Tourismusregionen geschieht. Dort scheut man sich nämlich, Fernwanderwege ins Schaufenster zu stellen, wenn sie vom sprichwörtlichen „irgendwo“ nach „nirgendwo“ verlaufen und der Gast der eigenen Region nur eine kleine Stippvisite abstattet.

Begegnung mit gefräßigen Bäumen © Gerhard Fitzthum

Die mangelnde Netzpräsenz ist ohnehin das Problem: Bislang gibt es keine einzige Webseite, die die Wegverläufe aller zwölf E-Wege im Detail verrät. Zwar plant der EWV, in den nächsten Jahren für jeden E-Weg eine eigene Homepage zu gestalten, im Moment ist aber nur die allein auf den E1 fokussierte Seite www.hiking-europe.eu umfassend und aktuell.

Andererseits kann man dankbar dafür sein, dass der große Zulauf ausgeblieben ist. Eine gewisse Einsamkeit gehört nämlich zu den eigentlichen Qualitätsmerkmalen einer Fußreise. Nicht nur, weil man sich abends nicht um die letzten Schlafplätze rangeln muss, sondern auch, weil das Reisen einen Teil seines Reizes verliert, wenn es – wie an Jakobsweg oder E5 – zu einem Massenphänomen wird. Darüber hinaus kommt ein solches Unternehmen dem Ideal eines umwelt- und sozialverträglichen Tourismus ziemlich nahe. Bei Wanderern, die sich auf insgesamt 60.000 Streckenkilometer verteilen, ist eine Beeinträchtigung der Umwelt geradezu ausgeschlossen. Und ebenso wenig muss man jenes Missverhältnis zwischen der Anzahl der Gäste und der der Bereisten befürchten, das heute unter dem Namen „Overtourism“ bekannt ist. Das Erkunden der Fremde wird damit wieder zu dem, was es zu den guten alten, aber unbequemen Zeiten war: eine aktive Weltaneignung, bei der einige wenige Reisende an Orte kommen, in denen sie nicht wieder hauptsächlich von ihresgleichen umgeben sind, sondern von den Menschen, die hier leben. Wahrer Luxus im Zeitalter von Influencer-Macht und der „Must see“-Doktrin, die einen Hype nach dem anderen produziert!

Potenzial für Entdeckungen

Das Begehen der Europäischen Fernwanderwege könnte also ein wichtiges Rezept sein gegen den Überdruss, der sich bei den Bereisten einstellt, wenn sie von Gästen überrannt werden. Wer mit großem Rucksack in einen Ort einläuft, wird anders wahrgenommen als die Reisegesellschaften der Busunternehmen, die auf Großparkplätzen vor Toiletten Schlange stehen und ein paar Handyfotos und Eiskugeln später wieder verschwinden. Menschen, die die archaischen Mühen auf sich nehmen, den angestammten Lebensraum der Leute Schritt für Schritt zu erkunden, erfahren deshalb vor Ort stets mehr Achtung. Der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl hat diesen Effekt schon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben: „Der Fußwanderer lebtmit den Leuten, wenn auch nur vorübergehend, nur abgekürzt und im Auszuge; darum ist jede gründliche Wanderung wenigstens eine halbe Einbürgerung, und wer acht Tage im Lande umhergeht, der wird dort sesshafter als ein anderer, der zwanzigmal hindurchgefahren ist“, schreibt er im Vorwort seines Hauptwerks „Land und Leute“. Die Annahme, dass Fernwandern etwas mit Entsagung zu tun hat, ist jedenfalls ein Irrtum. Man tut es nicht nur aus Gründen der Natur- und Sozialverträglichkeit, sondern auch, weil man selbst am meisten davon hat. Man ist nun wieder Subjekt der Reise, statt nur Konsument von Inszenierungen und Serviceleistungen. Den Rucksack zu schnüren und sich für Tage oder Wochen auf den eigenen Weg zu machen, hat deshalb auch ein subversives Moment: Es unterläuft die Mechanismen der Freizeitindustrie mit ihren Werbestrategien und Qualitätssiegeln und gewährt damit eine Freiheit, die dem modernen Urlauber abhanden gekommen ist – auch wenn man sich damit einiges an körperlichen Mühen und auch die eine oder andere Durststrecke einhandelt.

Gerhard Fitzthum