Wer mehr über Südtirol erfahren will als aus Reiseprospekten, Wanderführern und Bildbänden, sollte die Bücher des Schriftstellers Sebastian Marseiler lesen, seine Ausstellung „Wasserwosser“ in Schlurns besuchen und seine Filme schauen. 2016 hat er mit Helmuth Lechthaler einen Film gedreht: „Mit di Schoof gian“. Der Film erzählt die Geschichte der Transhumanz und Wollwirtschaft und ist so nah an Mensch, Vieh und Natur, dass man das Metier förmlich mit allen Sinnen erlebt. Für einen Kalender zum Film hat Marseiler faszinierende Texte geschrieben: „Im ersten Grauton des Morgens beginnt der Auftrieb, voraus ein Hirt mit „löck, löck, Pamper löck!“, dahinter die erfahrene Eïb, das Muttertier, die „Schellerin“, die den Weg schon kennt, zögernd beim Losgehen gefolgt von den ersten Tieren der Herde. Die Hänge geht es hinauf mit Schellengeklapper, Plärren und Blöken, heiserem Hundegebell, schneidenden Pfiffen, Rufen der Treiber. Der erste Schneehang icht die formlose Masse zu einem rhythmisch wippenden Wollband aus Schafleibern, die sich die Bahn brechen durch faulen Schnee. Wenn alles gut geht, wird kein Lamm abgedrängt werden und kein Tier abstürzen, wird kein Mutterschaf lämmern. Auf dem Joch eine kurze Rast und dann hinaus und hinunter über den Gletscher. Wie wenn die Schafe die Sommerweide schon röchen, ist ihr Tritt schneller geworden. Vorbei ist die Müdigkeit: Schließlich sind die Vintschger Schafe schon seit zwei Tagen unterwegs.“

Mitte September erfolgt der Almabtrieb.
Die Schafe kehren zur Schur zurück. Ich stehe im Ötztal vor dem Schafwollzentrum Regensburger in Umhausen. Seniorchef Johannes Regensburger gewährt uns eine Führung durch die Hallen seines Wollverarbeitungsbetriebs, der mit teilweise uralten Maschinen eine Vorstellung herkömmlicher Wollverarbeitung vermittelt. Als ich den Fuß über die Schwelle der Eingangstür setze, beschlägt meine Brille und mir bleibt der Atem weg. Es stinkt, es ist heiß und so laut, dass wir uns anbrüllen. Ballenweise türmt sich das Rohmaterial wie es nach der Schur in Papiersäcken und Plastikfolien zum Transport verpackt wird. Was auffällt, es ist nur dunkle Wolle. „Wir waschen sortenrein“, erklärt der Firmenchef vor der ersten Riesenmaschine, die wie ein gewaltiger Häcksler die Wolle zentnerweise in sich hineinfrisst, zerrupft, siebt, zerreißt, solange, bis Zweige, Kletten, Blattwerk, Gräser und andere Fremdkörper von der Wolle getrennt sind. Regensburger erkennt die Wollberge an der Farbe und der Beschaffenheit und kann sie den Schafrassen wie dem Tiroler Berg- und Steinschaf zuordnen.

Schafe duschen sich nicht. Die einzige Wollhygiene findet erst nach der Schur statt. Mit warmen Laugen wird aus der Wolle in mehreren Schritten das herausgewaschen, was Schafe so ausscheiden und in ihrem Fell ansammeln. Der feuchte Brodem über der Waschstraße lässt keine Zweifel an den Substanzen in der Luft. Immer feiner wird die Wolle gerupft und gezupft, bis nur noch kleine Flocken übrigbleiben. Ein Gebläse treibt die Flocken zusammen. Das Rohmaterial wird erneut verdichtet, gewalzt und entweder in großen Wollvliesmatten ausgeworfen oder zu einem zarten voluminösen Docht gesponnen. Eine Maschine legt diesen Docht automatisch in Ringen in einer großen Tonne ab. Die weiteren Verarbeitungsschritte sind bereits am Endprodukt orientiert. „Einiges geht in die Lodenwalkereien, einiges ins Pustertal, wo Filzpatschen draus gemacht werden, und wir haben auch unsere eigenen Produkte wie Teppiche, Bankau agen, Garne, Zwirne und Filze“, erklärt Regensburger.

Als ich mit dem Seniorchef das Werk verlasse, hole ich erst einmal tief Luft und folge seinem Sohn Joachim, der den Ladenverkauf leitet. Man muss schon diszipliniert den Geldbeutel festhalten, so verlockend und ansprechend sind die einzelnen Produkte. Die in Schafwolle eingeschlossene Zitronen- Olivenöl-Seife aus der örtlichen Seifensiederei muss es dann doch sein. Sie rubbelt beim Duschen die Haut ab und pflegt sie, feinste Naturprodukte, die mehr halten als sie versprechen. Ich staune, was aus dem schmuddeligen Schafschurhaufen geworden ist, und ahne noch nicht, was Wolle alles kann. Das demonstriert Friedrich Baur, Inhaber der Firma Baur Vliessto e in Dinkelsbühl, sehr eindrucksvoll. Gemeinsam mit seinem Bruder Christian leitet er das Unternehmen in vierter Generation und hat inzwischen mit seiner eigenen unternehmerischen Schub- und Innovationskraft zu kämpfen. „Für einen außenstehenden Besucher erscheint das Werk groß, aber gemessen an unserer Auftragslage und den vielen Ideen stoßen wir ständig an Grenzen. Man kann die Maschinen nur einmal belegen und nicht gleichzeitig experimentieren und produzieren. Wir bedienen ja nicht nur den kleinen Sektor der Bekleidungshersteller, sondern sind in vielen Feldern aktiv, wie es eben den Eigenschaften der Wolle entspricht“, erklärt Baur und merkt, dass sein Gegenüber nicht ganz folgen kann. Wir gehen in die Hallen, und ich erhalte einen Crashkurs in
Sachen Wolle. 

Einfach mal die Hand aufhalten, die Augen schließen und zugreifen. Dann Augen auf und der Wolle folgen, wie sie sich zusammendrücken lässt und wieder entspannt. Merken Sie den Unterschied?“ Wir gehen quer durch die Halle, testen an unterschiedlichsten Ballen die „Wollcharaktäre“. „Die hier ist nahezu tot. Die ist starr, fest, die richtige Wolle für Dämmmaterial. Diese hier springt förmlich wieder auseinander, ideal für Kopfkissen“, doziert Baur. „Dann ist die Wolle also von unterschiedlichen Rassen?“, frage ich und ernte ein Schmunzeln. „Im Grunde ist fast jeder Ballen anders. Die Konsistenz der Wolle hängt ab von der Rasse, vom Standort, von der Ernährung, Haltung und Herkunft der Tiere. Und wenn man sich lange genug mit der Wolle befasst, dann kann man sie lesen, verstehen, wofür sie geeignet ist, welche Verarbeitungsprozesse für die jeweilige Sorte ideal sind“, sagt Baur. Ob man das irgendwie studieren oder in Büchern nachlesen kann, möchte ich wissen. Baur tippt sich an die Schläfe. „Nein, das ist alles hier und ehrlich gesagt auch mein wichtigstes Kapital“.

Wir begehen das Werk von einer Maschine zur anderen. „Hier entstehen gerade Matratzenschoner für die Schweiz, die edelsten der Welt, eine Lage Seide, dann Kamelhaar, dann feinste Wolle. Die Seide wird durch eine eigens entwickelte Maschine mit patentiertem Verfahren geschlitzt, damit sich die Decke den Bewegungen des Schlafenden anpassen kann.“ „Warum nur für die Schweiz“, will ich wissen. „Weil der Preis für unseren Markt schlichtweg zu hoch ist.“

Baur kombiniert die Naturfasern mit Kunstfasern, verfestigt sie mechanisch, thermisch und chemisch und kommt so auf eine Vielzahl von Produkten, vom edlen Tuch bis hin zu Dämmmaterial für Dächer, Drainage-Material im Straßenbau oder Whoopie-Paneele für Konferenzräume und Kindergärten. Besonders bekannt geworden ist er durch die Marke Swisswool, die er 2009 gegründet hat, um die Wolle der Schweizer Bergbauern zu vermarkten. Nach dem Ende der eidgenössischen Subventionierung war Baurs Konzept die ideale Basis für ein äußerst erfolgreiches Produkt, zu dem sich beispielsweise die Outdoor-Firma „Ortovox“ bekennt. Heimische Wolle aus umwelt- und tierfreundlicher Produktion passt zum Image der Outdoor- Branche. Naturverbundene Sportler wollen keine Produkte unterstützen, die einmal um den Globus gereist sind und eine schlechte Ökobilanz aufweisen.

Baur bezieht seine Wolle hauptsächlich aus einer Wollwäscherei in Belgien, einem modernen Großbetrieb mit hohem Qualitäts- anspruch. Qualität und Sorgfalt spielen in der Wollbranche eine immer größere Rolle, seitdem Wolle durch Hightech-Verarbeitung der feinen Merino-Wolle und feinste Lodenwalkereien nahezu jedes Bekleidungsstück von der Kunstfaser unabhängig macht, von der Socke bis zur Outdoor-Jacke. Darauf hat sich die Firma „Roughstu “ spezialisiert, die teilweise aus feinstem Mehler-Loden moderne Outdoor-Jacken produziert, die voll im Trend liegen. „Naturbursche“, „Deubelskerl“ und „Draufgänger“ heißen die Modelle und man ahnt, wer sich die Jacken anzieht: alle, die gern draußen sind, bei jedem Wetter, und keinen globalisierten Plastikkram tragen wollen. „Das liegt enorm im Trend“, sagt Tobias Stork, Gründer von Roughstu . „Die vielen positiven Eigenschaften des Materials in Kombination mit sportlichen Schnitten und hoher Funktionalität machen das Produkt erfolgreich. Aber manchmal staunen wir doch und wüssten zu gern, welchen Weg unsere Jacken, Anoraks und Westen gehen, wenn sie die lange Reise nach Asien in fremde Kulturkreise antreten“, sagt Stork.

Ein besonders spannender Seiteneinsteiger im Outdoor-Sektor ist die Firma Reda mit ihrer 2010 gegründeten Linie Rewoolution. Die italienische Traditions Firma produziert von der Wollwäsche bis zum fertigen Tuch seit 1865 alles selbst in Biella, in unmittelbarer Nähe zum Stammsitz der Firma Ermenegildo Zegna. Was Reda aus Merinowolle macht ist schlichtweg einsame Spitzenklasse, weltweit. Die Stoffe der feinsten Zegna-Anzüge stammen von Reda und die Top-Qualität färbt auf die sportliche Rewoolution-Linie ab, auch im Preis. Der hat allerdings auch etwas mit der Nachhaltigkeit und dem Verantwortungsbewusstsein bei Reda zu tun. Die italienische Firma hat in Neuseeland eigene Merinofarmen und 2016 einen historischen Vertrag abgeschlosen. Zum Garantiepreis von 45 Millionen Dollar importiert Reda in den nächsten fünf Jahren 2.500 Tonnen Merinowolle in feinster Qualität (Faserdicke 15,8 bis 19,2 Mikron) und garantiert so den Schafzüchtern ein stabiles Einkommen bei nachhaltigen, transparenten Produktionsabläufen.

Von den Pampern auf den Hochweiden bis zum feinsten Zwirn der Brioni-Anzüge ist es ein weiter Weg, ein spannender naturnaher Weg, auf dem man in vielen Facetten eines der spannendsten Naturprodukte erleben kann. Und wenn es am Ende nicht für einen mehrere tausend Euro teuren Anzug reicht, ein Paar Filzlatschen können auch richtig glücklich machen.