Erst in den letzten 200.000 Jahren der Evolution bildete „homo sapiens“ jene spezfischen Merkmale aus wie das verlängerte Fersenbein für die größere Standfestigkeit, den kräftigen dicken Zeh für den Vortrieb beim Gehen und Laufen und längere Beine als Arme für raumgreifende Bewegungen im Gelände. All das wurde mir erst richtig bewusst, als Jürgen Siegwarth, Chef im Hause Hanwag im beschaulichen Vierkirchen vor den Toren von München, mir nach einer gemeinsamen Bergwanderung über Oberstaufen vorschlug, die Maßschuhfer- tigung in der Schuhentwicklungsabteilung mal anzuschauen.

Ein sonniger Dezembertag in Oberbayern

Hanwag gehört wie Fjällräven und Primus zur schwedischen Fenixgruppe. Die drei Firmen teilen sich ein mehrgeschossiges Firmengebäude. In Vierkirchen unterhält der bayerische Bergschuhspezialist seit 1921, als sich der gelernte Schustermeister Hans Wagner selbständig machte, eine Produktionsstätte. Hier in der Schaltzentrale arbeitet auch Stephan Schmidt mit seinen vier Kollegen in der Schuhentwicklungsabteilung. Im regelmäßigen Austausch mit Extrem-Outdoorern, Dauerläufern und Bergfexen, dem sogenannten ProTeam, entstehen neue Produktideen, werden Anforderungskriterien an spezielle Outdoorsituationen bzw. besondere Einsatzzwecke formuliert und ießen in neue Prototypen ein, die dann wieder von den ProTeam- Teammitgliedern auf Herz und Nieren getestet werden. „Am Ende stehen stets innovative Verbesserungen, die wir dann in unser klassisches Berg- und Wanderschuhprogramm ein ießen lassen.“ Der gelernte Schuhfertiger und Schuhtechniker ist auch Herr über einen 3D-Scanner, dessen rundlaufende Kamera Füße auf Knopfdruck vermisst. „Kein Mensch hat identische Füße“, erläutert der Schuhmachermeister im eingedeutschten „Bayerisch“ und lacht. Er erzählt, dass sich oft auch im Laufe des Lebens Deformationen ausbilden. Der Hammerzeh, Hallux valgus, sei mit Abstand die häufigste Fehlbildung und könne ganz schön schmerzhaft sein, da sich zwischen erstem und zweiten Mittelfußknochen des großen Zehs eine Abspreizung nach außen entwickelt. „Der Fuß wird mithin breiter, der Schuh aber nicht ...“. Hallux rigidus, der arthrotisch versteifte Großzeh, die Hamer- und Krallenzehe, Fersensporn, Fersenhöcker, Gichttophus am lisfrancschen Gelenk oder Haglund-Ferse – an pathologischen Auffälligkeiten am Fuße mangelt es nicht. Fragt sich nur, wie man unter diesen erschwerten und – qua Geburt-ungleichen Bedingungen den passenden Schuh finden soll?

Spiderman lässt grüßen

Dann bittet mich Stephan die gelb-schwarz bzw. grün-schwarz gestreiften, knallengen und mit feinem Gitternetz versehenen Strümpfe anzuziehen, mich einmal mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß auf die markierte Innen äche zu stellen. Während der Kameraarm geräuschlos um die Extremitäten des Spiderman fährt, muss ich daran denken, dass für die Mehrheit der Menschen die richtige Wahl des passenden Schuhwerks eigentlich eine Wahl zwischen Pest oder Cholera darstellt. „Richtig“, Jürgen Siegwarth grinst dabei, „wir Schuhmacher versuchen in einem nie enden wollenden Anpassungsprozess Normleisten zu entwikeln, die auf möglichst viele Fußformenpassen. Eine hundertprozentige Passform kann es aber selbst im größten Angebotssortiment nicht geben.“ Stephan hat in-
zwischen meine ungleichen Füße auf dem Bildschirm und nimmt mit den Softwaretools am Bildschirm Maß. „Schau, links und
rechts haben wir schon einmal eine halbe Nummer Differenz und Du hast einen extrem schlanken Fuß, das Fersenmaß weicht
von unserem Normleisten um sagenhafte 50 mm ab.“ Selbst das Druckbild der beiden Füße hat der 3D-Scanner erfasst. Dass ich
ausgeprägte Senkfüße habe, war mir schon seit dem letzten Orthopädenbesuch klar, aber so? Stephan erklärt mir sehr anschaulich, wie wichtig gerade die Passform der Ferse für beschwerdefreies Gehen sei. Da könne man zwar mit der Schnürung nachhelfen, aber bei 50 mm Abweichung wie bei mir sei das nicht zu kompensieren. Die Gefahr, sich Blasen zu laufen, sei daher ziemlich groß. Der Scanner vermisst den Ballenumfang, die Fußlänge und -breite, den Umfang des Rist, nimmt das Fersenmaß und erfasst so- gar den Wadenumfang. Nur spezialisierte Handelspartner (z.B. Engelhorn-Sport in Mannheim, Globetrotter Filiale und Sport Schuster in München oder Ehrl Sport in Bad Soden/TS und sechs weitere Fachgeschäfte in Deutschland und der Schweiz) arbeiten mit diesem 3D-Scanner. Sie übertragen die Kundendaten an Stephan Schmidt in Vier- kirchen, der mit einem CAD-Programm den speziellen Leisten modelliert und dann mit viel Fleißarbeit und Spachtelmasse den in- dividuellen Leisten fertigstellt.

Maßarbeit und ein 200-teiliges Puzzle

Sechs Wochen müsse ich in etwa auf meine Maßschuhe aus Leder warten, meint Ste- phan, schließlich sei der komplette Wander- stiefel reinste Maß- und Handarbeit. Beim anschließenden Gang durch die Produktion werde ich Augen- und Ohrenzeuge, wie dieses rund 200 Teile umfassende Puzzle, aus Lederschnipseln, Polsterungen, Ösen, Gummi, Bodenteilen, 60 Metern Nähfaden und einer Portion Klebsto in einem wahrhaft aufwändigen Fertigungsprozess durch die Abteilungen Zuschnitt, Steppen und Nähen, Bodenaufbau und Finishing läuft.Nathalie Grimm ist Auszubildende bei Stephan und steht gerade an der Zuschneidemaschine. Sie lässt die vom Scanner millimetergenau gesteuerten Schneidemesser das plano liegende Zeichenpuzzle abtasten und schneiden. Das Polstermaterial wird entweder im Bogen oder von der Rolle zugeführt. Was der Mensch nie könnte, schafftt die Maschine mit unglaublicher Präzision. Nathalie lernt Schuhfertigerin und geht in München in die Berufsschule. Nerven wie Drahtseile und geschickte Hände hat Musterstepperin Sabine Steiner an ihrer Einnadel-Nähmaschine. Sie vollbringt das Kunststück, ohne Wackler parallele Nähte zu produzieren selbst mit Bögen und Schwüngen. Es wird genietet, geklebt, geprägt, geschärft, gehämmert und geschnürt, dass es mir schwindlig wird. Dass ich in sechs Wochen einen auf meine ungleichen Füße zugeschnittenen Wanderschuh tragen kann, der diesen aufreibenden Prouktionsprozess mit höchster handwerklichem Geschick durchlaufen hat, lässt die Vorfreude immens wachsen.


Der Nutzen, der Preis, die Zukunft

Okay, Maßschuhe sind nicht gerade preiswert. Man muss etwa die vierfachen Kosten eines normalen Wanderschuhs aus vergleichbaren Materialien ansetzen. Der Nutzen liegt im völlig beschwerdefreien Gebrauch. Vom ersten Einsatz im heimischen Siebengebirge im März 2015 bei Bonn bis heute bin ich rund 18.000 Höhenmeter und vielleicht 1.000 Kilometer in der Strecke gelaufen und kann sagen: Nie war das Wandern so beschwerdefrei. Mein persönlicher Leisten lagert derweil im schönen Vierkirchen bei Stephan Schmidt und Jürgen Sieg- warth und wartet darauf, dass ich vielleicht Lust auf einen schönen Halbwanderschuh bekomme. Der gleiche Leisten, der gleiche Lustgewinn. Schöne Aussichten ...