Von Michael Sänger

 

Der Weg dorthin ...

... ist bereits Teil einer Annäherung an Flockenwirbel, frostrote Nasen, klamme Finger und den knisternden Bollerofen. „Einmal meinen Geburtstag im Schnee erleben!“ Die letzte weiße Winterlandschaft Ende Januar liegt gefühlte 50 Jahre zurück. Hier im Rheinland gibt es hin und wieder mal 15 oder vielleicht 21 Flocken. Die tröpfeln dann schon gegen zehn Uhr in die Regenrinnen und Abflüsse. Schnee im Rheinland ist nur etwas für Nachtschwärmer und Frühaufsteher. Unser Ziel ist Norwegen. Genauer gesagt, der Hallingskarvet-Nationalpark. Die Langsamkeit der Anreise erfordert natürlich mehr Zeit. Dieses „Mehr“ an Zeit sollte man in Relation zur geplanten Verweildauer sehen. 14 Tage vor Ort erachte ich als das Minimum. Drei Wochen, so haben wir das vor, sind optimal. Morgens um sieben Uhr brechen wir mit dem Auto gen Kiel auf. Dort werden wir gegen zwei Uhr die Fähre nach Oslo besteigen. Das Fährschiff der norwegischen Colorline heißt „Majestic“ und schaut vom Kai aus betrachtet wie ein blau-weißes Hotel aus. 15 Decks hoch. Wahnsinn. Die Sonne scheint bei angenehmen zehn Plusgraden, als wir vom Oslokai ablegen und langsam in die dichte Nebelsuppe der Ostsee entschwinden.

Oslo empfängt in Weiß

Die Fahrt nach Oslo ist wie eine Hotelübernachtung. Man schläft in gemütlichen Kabinen, speist wahlweise vom Büfett oder à la carte und genießt die kalte Ostseebrise an Deck. Die etwa einstündige Annäherung an das Endziel durch den engen und schärenreichen Oslofjord im fahlen Dämmerlicht des neuen Tages ist der Höhepunkt der Fährfahrt. Der Oslofjord und die norwegische Hauptstadt empfangen uns im winterlichen Weiß. Bei zwei Grad minus fahren wir aus dem gewaltigen Bauch des Schiffes hinaus in die morgendliche rush hour. Mit jedem Kilometer, den wir uns aus der einzigen Großstadt Norwegens entfernen, sinkt die Außentemperatur. Kurz vor dem Ziel, den gewaltigen Gesteinshöckern des Hallingskarvet-Nationalparks zwischen Geilo und Hol, zeigt das Thermometer eindrucksvolle minus 14 Grad an. Die Bäume und Stromleitungen sind dick mit Rauhreif beflockt. In den Fenstern der schneebedeckten Holzhäuser leuchten Lichter. Schwer beladene Transporter, die uns entgegenkommen, fegen Schneefontänen über die Fahrbahn. Dann erfolgt die steile Auffahrt hinauf nach Holsåsen, eine auf 1.000 Metern gelegene Hochebene direkt gegenüber der steilen Ostkante des Nationalparks. Bei der Kälte ist der Schnee griffig und, nach 20 Minuten Bergfahrt, unterbrochen von einer Mautstelle, empfängt uns die aussichtsreich gelegene Hütte mit zapfigen Raumtemperaturen knapp über Null. Rasch werfe ich den Kaminofen an und, während die Mittagssonne ockerfarbene Lichtstrahlen durchs Fenster wirft, kauern Andrea und ich bei einer Tasse Glühwein vor dem prasselnden Feuer. Winter in Norwegen – wie schön. 

TOURENTIPP FÜR LANGLAUF-CRACKS:
Überquerung des Hallingskarvet-Nationalparks mit Skiern
Von Finse aus geht es in Richtung Kyrkjedøri, einem Engtal zum Kyrkjedørsvatni am Fuße des 1790 m hohen Kyrkjedørsnuten und weiter auf den Berg zu. Sie folgen dann dem höchsten Kamm des Skarvet, über Hellevassfonni zum Folarskardnuten. Steil hinunter in Folarskardet mit der herrlich gelegenen Lordehytta (englische Lords hatten sich dort im 19. Jahrhundert eine Bleibe aus Stein für die Sommerurlaube erbauen lassen) und gleichmäßig bis zum östlichen Teil von Hallingskarvet und entlang des höchsten Bergrückens nach Prestholtskarvet. Vorsicht, die direkte Abfahrt zur Prestholtstølan ist extrem steil. Am sichersten ist es, die Fahrt über den sich sanft nach Osten senkenden Skarvsenden bis zur Fahrstraße zur Berghütte zu beenden.

Wie ein Monolith aus der Urzeit

2006 wurde der Hallingskarvet zum Nationalpark erklärt. 450 qkm ist er groß und umfasst das Herz des Felsenriffs aus Gneisen und Graniten mit seinem 35 Kilometer langen und bis zu fünf Kilometer breiten Bergrücken. Westlich und nördlich schließen sich tiefer gelegene Areale an. Entstanden ist dieser urzeitliche Monolith vor rund 1,6 Milliarden Jahren. Wie der südwestlich gelegene Hardangerjøkulen oder die Hardangervidda gehört der Hallingskarvet zu den ältesten Gebirgen der Welt. Der 1.933 Meter hohe Folarsknuten markiert den höchsten Punkt im Nationalpark. Mittendrin auf dem abgeflachten Plateau nordwestlich des Folarsknuten liegt auf 1.453 Metern Seehöhe der Flakavatnet, Norwegens höchstgelegener See. Nach Süden und Nordosten prägen die rund 600 Meter steil abfallenden Kanten des Felsenrückens das Bild. Von unserer Hütte aus blicken wir über das von den verschiedenen Eiszeiten tief ausgehobelte Tal der Holselva hinüber auf diesen gigantischen, schneebedeckten Felsenrücken. 

In der Morgenröte färben sich die Felswände erst mit einem biblisch schönen Lila, wandeln sich zum tiefen Rot, um schlussendlich in warmen Orangetönen, die beim Blick durch das Fernglas jeden Felsspalt sichtbar machen. Die Holselva entspringt im 978 Meter hoch gelegenen Strandavatnet und vereint sich in Hagafoss mit der Ustselva, die von dem See Ustaoset her an Geilo vorbeifließt. Ab hier heißt der Gebirgsfluss Hallingdalselva und verleiht dem Hallingdal den unter Norwegenkennern bekannten Namen. Skarvet, so lesen wir in einer vergilbten Broschüre, ist altnorwegischer Herkunft und heißt so viel wie steile Hangkante. In Deutschland würde man vielleicht auch vom Trauf sprechen. Andrea und ich finden das in jedem Falle passend.

Ski und Langlauf hervorragend

In der ersten Woche sanken die Nachttemperaturen auf unter 25 Grad und auch tagsüber kletterten sie nicht wesentlich höher als minus 14 Grad. Egal, warm einpacken und sich bewegen ist die Devise. Keine 100 Meter vor unserer Türe können wir in das riesige, doppelspurige Loipennetz einsteigen. An markanten Abzweigungen informieren kleine Kartenausschnitte über den Standort, über die Entfernungen zu den nächsten Zielen und den zu erwartenden Schwierigkeitsgrad. Gut für uns Langlauf-Wiedereinsteiger. Die letzten Langlauferfahrungen liegen nun schon wieder knapp 15 Jahre zurück. Auf der schockgefrorenen Spur laufen die schmalen Bretter wie der Teufel. Bei kurzen Abfahrten, vor allem solchen mit Kurven darin, legen wir uns anfangs natürlich sofort hin. Wie gut, dass die gewalzte und hart gefrorene Schneedecke links und rechts der Fahrspuren das Aufstehen erleichtert. Dann gleiten wir nach einigen holprigen Anfangsproblemen wie die Engel durch eine weiße Winterwelt. Gleißender Sonnenschein, wohin das Auge blickt. Wir erkennen im Osten den turmbewehrten Sangefjell über Ål und arbeiten uns mit äußerstem Krafteinsatz der Oberarme auf den 1.156 Meter hohen Svartjodnbu hinauf. Schon die knapp 100 Meter Höhenunterschied lassen den Vegetationswechsel erkennen. Der sanft ansteigende Bergrücken zum 1.243 Meter hohen Brenthovd ist bereits komplett baumfrei. Immer wieder zweigen Loipen ab. Wir gleiten zum 1.005 Meter hoch gelegenen Varaldsetvatn-See ab und erreichen, völlig ermattet, nach weiteren 9,6 Kilometern wieder die Hütte. Jetzt, die Sonne versinkt allmählich hinter dem Hallingskarvet, ist Sauna angesagt. Wundervoll.

Skitouren im Nationalpark: In der Touristinformation in Geilo gibt es kostenlose Loipenkarten für den Nationalpark und die Umgebung (auch für Hol und Holsasen).

Weitere Nationalparks in der Nähe: Norwegen hat 47 Nationalparks, davon 40 auf dem Festland. Neun weitere Nationalparkes mit attraktiven Wintersportmöglichkeiten befinden sich in der Nähe des 2006 gegründeten Hallingskarvet-Nationalparks:

  • Hardangervidda, 3.422 km²
  • Folgefonna, 545 km²
  • Langsua, 537 km²
  • Jotunheimen 1.140 km²
  • Breheimen, 1447 km²
  • Jostedalsbreen, 1.230 km² 
  • Rondane, 963 km²
  • Dovrefjell-Sunndalsfjella, 1.693 km²
  • Reinheimen 1.969 km²

Touren- und Wanderkarte für den Hallingskarvet-Nationalpark: Hallingskarvet nasjonalpark, 1:50.000, 28,90 Euro (www.landkartenschropp.de)

Meterhoch

Es hat in der Nacht geschneit. Ein altersschwacher Traktor mit Schneepfluggeschirr räumt den Fahrweg bis zu unserer Hütte, doch es schneit weiter. Während es sich Andrea vor dem Kaminofen mit einer Tasse Tee gemütlich macht, ziehe ich die Gamaschen über und schnalle die Schneeschuhe unter die Wanderstiefel. Solange ich auf der nunmehr tief verschneiten Loipe unterwegs bin komme ich gut voran. Dann entscheide ich mich für querfeldein und sinke bei jedem Schritt bis zur Hüfte ein. Das Fortkommen ist ein schweißtreibender Akt. Linker Stock nach vorne, rechten Fuß aus dem Schneeloch mit einiger Kraft anheben und einen halben Meter weiter vorne wieder aufsetzen. Wieder sinke ich bis zum Rucksack ein. Nach zehn Minuten bin ich nassgeschwitzt und habe vielleicht 100 Meter geschafft. Rasch lerne ich, dass man in der Nähe der Bäume nur halb so tief einsinkt und dafür so manche Schneepackung von oben riskieren sollte. An den Ästen und Zweigen der Kiefern hängen lange Bastkämme, vereinzelt stoße ich auf tierische Spuren und fotografiere sie. Es ist still, wenn ich stehenbleibe. Mein Atem entweicht in weißen Nebelfetzen, filigrane Schneekristalle schweben vom Himmel. Unter einer vom Wind gebeugten Fichte mache ich Rast. Erst mache ich mit den Schneeschuhen zwei Quadratmeter Schnee platt. Dann hole ich die Thermoskanne aus dem Rucksack und setze mich auf den Schnee. Unvorstellbar, was Rentierjäger, Trapper und andere Berufsoutdoorer bei solchen Witterungsbedingungen leisten mussten. Ich atme die staubtrockene, eiskalte Luft tief ein – und ja, ich fühle mich nun wirklich frei. Hier dehnt sich die Zeit. Hier bin ich ganz und gar gegenwärtig. Teil der Natur.

Auch Skihasen kommen auf ihre Kosten

Winter in Norwegen, das heißt natürlich auch Schlittschuhlaufen, Rodeln und Ski alpin. Wie gut, dass nur rund 45 Fahrminuten entfernt am südlichen Rand des Nationalparks Geilo liegt. Der Ort verfügt über ein 220 Kilometer langes Loipennetz sowie 18 Liftanlagen. Die Pistenlänge beträgt insgesamt 25 Kilometer, die längste Abfahrt zwei. Das Skigebiet befindet sich auf ca. 900 Metern Höhe mit einer maximalen Höhendifferenz von 275 Metern. Geilo gilt zwischen Dezember und April als absolut schneesicher. Von unserer Hütte aus können wir in der Dunkelheit im Süden den Lichtschein der Nachtskipiste ausmachen. Für uns wenig skierfahrene Sicherheitsfahrer ist das Gebiet genau richtig. Wir leihen uns an einem sonnigen Morgen die passenden Ski und Skischuhe aus und kaufen einen Tagesskipass. Den in den Alpen üblichen Massenauftrieb gibt es hier schlichtweg nicht. Kein Gedrängel und kein Anstellen. Wir rauschen 4 oder 5 x die Pisten hinunter, trinken unseren heißen Tee und verbinden den Ausflug in die urbane Welt eines kleinen Städtchen mit Bars, Restaurants und Geschäften mit dem Einkauf und fühlen anschließend eine stille Befriedigung darüber, dass wir nun wieder in unsere Wintereinsamkeit in der Höhe fahren können.

Sonne und Schnee

Die langen, gemütlichen Winterabende vor dem Kamin, die Lesestunden mit Blick auf eine faszinierende winterliche Gebirgswelt werden unvergessen bleiben. Sonnen- und Schneetage wechselten einander ab. In der dritten Urlaubswoche kletterten die Temperaturen tagsüber schon einmal stundenweise auf leichte Plusgrade, das brachte den täglichen Langlauf- und Schneeschuhtouren keinerlei Abbruch. Mit großer Wehmut verabschieden wir uns von der Wintereinsamkeit im Hallingskarvet-Nationalpark. Aber auch tiefgreifend erholt, erfüllt mit wundervollen Erinnerungen und gestählt durch das tägliche Ganzkörpertraining. Es war einfach göttlich.

Mehr Infos:

Tipps für die Anreise:
Ab Kiel mit Colorline bis Oslo. Von dort in ca. 4 Std. bis Hol oder Geilo mit dem Auto. Mit ÖPNV ist der Nationalpark über die Bergenban ab Oslo bis Geilo zu erreichen. Die Bahn fährt über Hamburg, Kopenhagen, Göteborg, Oslo bis Geilo. Gute Winterreifen waren ausreichend. Man sollte aber sicherheitshalber auch Schneeketten an Bord haben.

Für die Anmietung einer Hütte:
www.novasol.de

Infoadresse:
Hallingskarvet Nationalpark
Rallarvegen 2660,
N-5719 Finse
Tel. +47 934 07 549
www.nasjonalparkstyre.no

Touristinformationen:
Geilo Touristinformation
Vesleslåttvegen 13,
N-3580 Geilo
post@geilo.no
Tel. +47 32 09 59 00
www.geilo.no

Ål Touristeninformation
Myren 28,
N-3570 Ål,
Tel. +47 32081060
post@alutvikling.no
www.al.no