Die Einteilung in vier Jahreszeiten, so zeigt ein Blick in die Kulturgeschichte, hat sich erst im Laufe der Jahrtausende etabliert. Noch in der frühen Antike kannte man anfangs nur zwei, später drei Jahreszeiten. In anderen Kulturen wurden gar bis zu sechs jahreszeitliche Perioden unterschieden. Gemeinsam ist allen Ordnungen der enge Zusammenhang mit dem Naturkreislauf von Geburt, Wachstum, Reife und Tod, der sich in ihnen widerspiegelt.
Steiners Seelenkalender
Im Vorwort zur zweiten Auflage seines anthroposophischen Seelenkalenders von 1918 schreibt Rudolf Steiner, u. a. Begründer der Anthroposophie und Waldorf-Pädagogik: „Der Jahreslauf hat sein eigenes Leben. Die Menschenseele kann dieses Leben mitempfinden. Lässt sie, was von Woche zu Woche anders spricht aus dem Leben des Jahres, auf sich wirken, dann wird sie sich durch solches Mitleben selber erst richtig finden.“ Dabei stellt Steiner interessanterweise sieben das Leben bestimmende Analogien oder Ordnungsstrukturen auf. Der Frühling korrespondiert mit dem Morgen der Tageszeiten, dem Osten der Himmelsrichtungen, der Kindheit im Lebenslauf, dem Element Luft, der Farbe Gelb, dem Temperament des Sanguinikers und der Astralfarbe Rot. Für den Sommer stellt er den Mittag, den Süden, die Jugend, das Element Feuer, die Farbe Rot, den Choleriker und die Astralfarbe Weiß in einen Kontext. Beim Herbst denkt er an den Abend, den Westen, den Erwachsenen, das Element Wasser, die Farbe Blau, den Phlegmatiker und die Astralfarbe Schwarz. Und dem Winter ordnet er die Nacht als Tageszeit, den Norden, das Alter im Lebenslauf, als Element die Erde, die Farbe Grün, den Melancholiker bei den Temperamenten und die Astralfarbe Grün zu. Insbesondere die jahreszeitlichen Naturphänomene werden durch Steiner nicht zum ersten Male im engen Bezug zum Lebenslauf, der Abfolge von Geburt, Entwicklung, Reife und Alter gesehen. Schon in der griechischen Mythologie ordnete man den „Müttern aller Dinge“, den Horen, Zyklen natürlicher Vorgänge im Jahreskreislauf zu. Horen, das waren die griechischen Göttinnen der Ordnung und der Jahreszeiten. Die Erinen standen für den Frühling, die Xanthen für den Sommer, die Oporinen für den Herbst und die Cheimerien für den Winter. In der griechischen Antike strukturierten die Horen die Zyklen des Pflanzenwachstums und der Witterungsverhältnisse.
Vierheit oder Gegensätzlichkeit?
Mit Frühling und Herbst bzw. Sommer und Winter ordnet die irdische Natur laut C.G. Jung das Leben zunächst mit jeweils zwei sich entsprechenden Gegensätzlichkeiten. Das gilt aber auch bei genauerer Betrachtung für die vier Elementen (Feuer, Wasser, Luft und Erde) oder die vier Eigenschaften (warm, kalt, trocken, feucht), die auf den römischen Medicus Galenus zurückgehen. Wir unterscheiden entsprechend auch vier Tageszeiten und vier Himmelsrichtungen. Liegen nun unsere Jahreszeiten im Wettstreit miteinander oder findet die Zwietracht wohl nur in unseren Köpfen statt? Mit B. H. Brockes, der 1745 den Naturepos „The Seasons“ (die Jahreszeiten) des eng- lischen Naturphilosophen James Thomson übersetzte und herausgab, wurde in Deutschland nicht nur die Romantik befördert, sondern es etablierte sich erstmals ein breites Verständnis jener Allegorien, mit der sich das Werden, Wachsen, Ernten und Vergehen im natürlichen Jahreslauf verdeutlichen ließ. In Thomsons 1730 in England herausgegebenen Gesamtwerk wird der Herbst mit weiblicher Symbolik, mit Sichel und Ährengarbe und Jagdszene illustriert. Der Winter kommt als alter Mann mit Wolken, Sturm, Regen und Schnee daher. Der Sommer wird als Kind des Lichtgottes illustriert, während der Frühling links oben bereits sein Gesicht verhüllt, werden in der Mitte Szenen von Heuernte, Schafswäsche und Viehtränke gezeigt. Beim Frühling schlägt ein Regenbogen die Brücke zwischen Himmel und Erde, der Winter macht sich als dunkle Wolke aus dem Staub, und eine jungfräuliche Göttin demonstriert Fruchtbarkeit und Wachstum. Was bedeuten die Jahreszeiten für jeden Einzelnen von uns? Die Tage werden im Winter kürzer, das Licht gewinnt an Bedeutung, weil es sich in unseren Breiten rarmacht. Der Sommer schöpft aus dem Vollen. Kurze Nächte und lange Abende. Gewitterfronten und Himmelsblitze, Badeseen und Gipfelfreuden. Der Herbst mit einem Potpourri aus letzten warmen Strahlen und zähem Bodennebel, Weinlese, Obsternte und Jagdvergnügen und der Frühling mit seiner überbordenden Freude, mit mannigfachem Neubeginn, seelenstreichelnder Lebenslust – vom Wettstreit kann eigentlich keine Rede sein. Jahreszeiten sind eher die Spielpro- gramme der einzigartigen Naturbühne.
Musik liegt in der Luft
Von einem musikalischen Wettstreit der Jahreszeiten handelt Alessandro Scarlattis Oper „Vier Jahreszeiten“, die er in Neapel 1716 uraufführte. Die Geschichte? Welche Jahreszeit hat den gro?ßten Anteil an der Ge- burt des Thronfolgers Leopold Johann von Habsburg, der im Sommer gezeugt wurde und im Frühling zur Welt kam? Die Auflösung: Natürlich „la Primavera“, der Frühling. Alessandro Scarlatti widmete diesem Wettstreit der vier Jahreszeiten seine schönste „Serenata“ für die Stimmvirtuosen Neapels und ein bestens besetztes Orchester. Nach der Uraufführung 1716 wurde sie auch in Wien gespielt, schließlich ging es um Kaiserin Elisabeth Christine und den leider zu früh verstorbenen Bruder Joseph I. von Maria Theresia. Es ist Scarlattis Verdienst, den Jahreszeiten ein von Menschenhand er- zeugtes musikalisches Profil gegeben zu haben. Wenngleich es bei dem Wettstreit mehr um die allegorische Verarbeitung menschli- chen Werdens von der Zeugung, dem allmählichen Heranreifen des Fötus bis zur alles übertreffenden Geburt des kaiserlichen Sprosses denn um die jahreszeitlichen Besonderheiten ging. Dieses Verdienst darf Antonio Vivaldi neun Jahre später mit seinen vier Violinkonzerten für sich in Anspruch nehmen. In jeweils drei Sätzen lässt Vivaldi in den vier Konzerten erstmals die Jahreszeiten erklingen. 1801, mit einem Libretto auf Grundlage von James Thomson (Seasons), verleiht Joseph Haydn den Jahreszeiten mit seinem gewaltigen Oratorium „Die Jahreszeiten“ erstmals auch Stimmen. Oratorien wurden typischerweise zu christlichen Themen geschrieben und bezogen ihre Textgrundlagen regelma?ßig aus der Bibel oder Heiligengeschichten. Das Libretto der Jahreszeiten dagegen ist weitgehend auf die Beschreibung der Jahres- und Tageskreise bezogen. Lediglich der Finalsatz spricht weiterführende Assoziationen an, etwa die Bedeutung des Lebens oder des ewigen Lebens an sich. Diese Schlusspassagen gründen bemerkenswerterweise nicht auf Übersetzungen aus dem Versepos von James Thomson. Fazit: Den Wettstreit denkt sich nur der Mensch aus, Vivaldi und Haydn gaben uns ihre musikalischen Vermächtnisse ausschließlich zur Erbauung und Inspiration eingedenk der Faszination des jahreszeitlichen Wechsels.
Das Ringen um die Vorzüge
Es bleibt letztlich nur die Gegenüberstellung der jeweiligen Vorzüge. Was bietet die eine Jahreszeit, was die jeweils andere Jahreszeit nicht kann? Wie halten wir es damit? Hat der Frühling mit frischen Knospen, zarter Blütenpracht, dem Wonnemonat Mai, dem frühmorgendlichen Vogelorchester und lauen Lüften die Oberhand? Wer ist ein Kind des Sommers, wenn die Sonne
stundenlang Licht und Wärme zu uns sendet? Wenn die Tageshitze durstig macht und der Sprung ins kühle Nass die erfrischende Abkühlung bringt und die schier endlosen Abende im Garten, draußen oder im Biergarten Freude bringen? Mancher schätzt den Herbst mit seiner unvorstellbaren Farbenflut, mit glitzernden Fäden in der Luft, wenn die reifen Trauben für edle Weine gelesen werden und die Felder abgeerntet auf das kommende Jahr warten. Andere schätzen besonders die Stille, die Melancholie des Winters, prasselndes Kaminfeuer, wenn eisiger Wind die Augen tränen lässt, Nebel Land und Leute in eine unwirkliche Scheinwelt taucht, wenn frisch gefalle- ner Schnee alles im weißen Mantel einhüllt, jedes Geräusch zu schlucken scheint. Während alle diese Eigenheiten etwas mit uns machen, können wir auch selbst etwas mit den Besonderheiten der Jahreszeiten machen. Beim Gang durch den Wald, bei der
Radtour durch die Heide, beim Wasserwandern, beim Wattwandern oder Winterwandern. Egal, welches Grundgefühl vorherrschen mag, erst bei der aktiven Bewegung draußen blickt man in den Spiegel der Natur und erkennt sich selbst. Wir sind Teil der Natur, Teil des Kosmos. Der Wettstreit der Jahreszeiten, den es dem Sinne nach nicht geben kann, findet letztlich nur in uns statt. Es ist die Begegnung mit der eigenen Seele, das Erkennen, wo man als Mensch innerhalb des Lebenslaufs gerade steckt und die Sicherheit, dass es die Jahreszeiten (die Lebensphasen) sind, die unser Leben so ungemein bereichern. Allerdings bleibt ein Makel bestehen, denn im Gegensatz zur ewig wie- derkehrenden Abfolge der Jahreszeiten, wird, so auch der Autor dieses Beitrags, niemand einen zweiten Frühling oder Sommer erleben ...