OutdoorWelten: Wie muss man sich das Geschichtenerzählen vorstellen? Gibt es da eine Bühne, und alle sitzen um Sie herum?

JR: Nein, es ist eher eine Vorstellung, eine Darbietung oder Performance. Wenn ich die Geschichte des Fischens erzähle, dann ziehe ich mich an, wie wenn ich zum Fischen gehe, nehme alles mit, was ich brauche, und zeige den Leuten, wie wir seit Jahrtausenden unter diesen Bedingungen Fische fangen.

KPK: Dazu muss man wissen, dass aufgrund archäologischer Funde und deren Auswertung die Technik des Fischens unter Eis vermutlich schon 5000 bis 7000 Jahre alt ist. Nur in Lappland gibt es heute noch Menschen, die diese Fischfangmethode ohne jede Veränderung nutzen.

OW: Aber wenn Sie alte Mythen und Märchen erzählen, ist das eher wie ein Vortrag, so wie wir uns das vorstellen?

JR: Nein, nicht wirklich. Ich versetze mich dann in eine andere Figur und trage ihre Kleidung. Wenn ich die Geschichte des Jagens erzähle, gehen wir gemeinsam auf die Jagd.

KPK: Ich glaube, man muss es dabei belassen, dass es eine einzigartige, bei uns unbekannte Form des gespielten Erzählens ist, die in diesem Moment voll von ihm Besitz ergreift. Das hat auch etwas mit dem Schamanismus zu tun, dass er während der Vorstellung mit einer uns nicht verständlichen Intensität in diese Rolle schlüpft. Er hat mir einmal von einer finnischen Fernsehreportage erzählt, in der über ihn berichtet wurde. Das hat er so bildgewaltig getan, dass ich anschließend ehrlich überzeugt war, sie gesehen zu haben. Erst als er sie mir wirklich auf Video zeigte, merkte ich, dass die Bilder bisher nur in meiner Vorstellung waren.

OW: Woher kennen Sie all diese Geschichten?

JR: Das Meiste sind Überlieferungen, die mir von anderen Menschen und ihren Vorfahren zugetragen wurden. Einiges ist angelesen, aber das Meiste habe ich selbst durch Erzählungen erfahren.

OW: In der Wissenschaft gibt es den Begriff der Oral History. Offensichtlich sind Sie für viele Menschen im weiten Umkreis so eine Art kollektives Gedächtnis, das Sie möglichst weit verbreiten und dadurch für künftige Generationen bewahren wollen.

JR: So ähnlich. Ich will auch, dass wir diese Lebensformen beibehalten, unsere Herkunft nicht vergessen, auch wenn wir in der modernen Welt angekommen sind und mit Motorschlitten fahren. Es ist etwas mehr als Oral History, weil es durch die Lebendigkeit des Vortrags gleichsam lebendig werden soll. Außerdem ist es ein Unterschied, ob ich das ganze Jahr über für die Einheimischen diese Erinnerungen wachhalte oder in der Hauptreisezeit für Touristen zur Verfügung stehe.

OW: Wofür interessieren sich die Touristen?

JR: Sie kommen hauptsächlich im Herbst und Winter und interessieren sich für die mythologische Überlieferung, für unseren Sagen und Märchen. Dafür habe ich eigene Programme, die etwa eine Stunde dauern. Wenn ich zeige, wie wir seit Jahrtausenden mit dem Netz unter Eis fischen, wird anschließend gemeinsam der frisch gefangene Fisch zubereitet, und ich erzähle während des Fischens die Sage vom einäugigen Hecht. Ein anderes Mal erzähle ich von der Entstehung unserer Landschaft, wie Riesen übers Land zogen, oder ich besuche mit den Gästen uralte verfallene Siedlungen und erzähle, wie man früher zusammenlebte. Dann kehren wir wieder in unsere Käta (Kotta/Kote) am Seeufer zurück, wo ich gerne die alten Sagen erzähle.

OW: Wäre es nicht naheliegend, all dieses Wissen zu publizieren? Haben Sie Aufzeichnungen?

JR: Nein, es ist alles in diesem Kopf, und die Tradierung wird auch nie anders stattfinden als durch diese Programme, die ich anbiete. Das gilt für die Einheimischen und die Touristen.

KPK: Bitte diese Programme nicht als Show missverstehen. Es ist die authentische Art der Überlieferung dieses kollektiven Wissens, so wie es schon immer seit Jahrhunderten und Jahrtausenden stattfindet. Es ist nicht irgendein Showbusiness.

OW: Der erste Besuch mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Deutschland muss für ihn eine intensive Erfahrung sein.

KPK: Ja, besonders die zehn und zwölf Jahre alten Mädchen sind von der Angebotsfülle der Innenstädte und Supermärkte erschlagen. Die erste Begegnung mit Pommes und Currywurst verändert auch ein wenig meinen Blick auf die für uns alltäglichen Dinge. Besonders beeindruckend ist allerdings, wie Jari mit der besonderen Gabe seiner Vorstellungskraft auf diesen „Kulturschock“ reagiert. In kürzester Zeit übersetzt er die Eindrücke in kleine Fantasiegeschichten um, die dann wie ein Abenteuerfilm aus ihm heraussprudeln. Dieses Talent kann man nicht lernen. Daher ist er Jari Rossi, der lappländische Geschichtenerzähler.

OW: Vielen Dank für das Gespräch.