Lutz Fähser, Jahrgang 1944, Diplom Forstwirt, forstliches Staatsexamen in Hessen, Promotion an der Uni Freiburg 1977, verheiratet, zwei Kinder, war von 1986 bis 2010 Leiter des Stadtforstamtes der Hansestadt Lübeck.
OutdoorWelten: Unter welchem Namen ist Ihr Konzept der Waldbewirtschaftung von 1994 „Naturnahe Waldnutzung“ eigentlich heute im Sprachgebrauch?
Lutz Fähser: Aus anfänglich „Naturnahe Waldnutzung“ wurde heute „Integrierter Prozessschutz“. Prozessschutz ist die völlige Autarkie aller biologischen Prozesse. In unserem Konzept, wir sind ja ein Wirtschaftswald, haben wir versucht, möglichst viele dieser natürlichen Prozesse zu erhalten. In vielen anderen Wäldern werden übrigens einzelne Elemente des integrierten Prozessschutzes umgesetzt, aber längst nicht in der Stringenz wie in unserem Lübecker Stadtwald. In Deutschland vielfach verfolgt ist das Element der Habitatbäume. Das sind Bäume, die wichtigen Lebensraum für Tiere bieten. Sie bleiben für immer stehen. Das zweite Element ist das Totholz. So ein Biotop- oder Habitatbaum bricht irgendwann zusammen, stirbt ab oder wird vom Sturm geworfen. Die lässt man liegen und überlässt sie dem natürlichen Zersetzungsprozess. Biotopbäume haben z. B. Mulchtaschen für Käfer, einen Horst für Greifvogel oder Spechtshöhlen. In Lübeck sollten mindestens 10 % an dem Baumvolumen Tot- oder Biotopholz sein, inzwischen ist der Anteil auf 17 % gewachsen. In den meisten staatlichen Wäldern sind es häufig nur zehn Biotopbäume pro Hektar, die man stehen lässt.
OW: Wer ist eigentlich der Vater dieses national wie international viel beachteten Konzeptes?
LF: Die Ausschreibung als Leiter des Lübecker Stadtwaldes damals forderte die Entwicklung eines naturgemäßen Bewirtschaftungskonzeptes. So haben wir von 1986 bis 1994 mit einem Team das Konzept Schritt für Schritt entwickelt und mit vielen Akteuren diskutiert. Während dieser Zeit musste eine Inventur des Bestehenden erfolgen. Ich habe dafür jemanden gesucht, der diese mindestens einjährige Aufgabe gut erledigen würde. Dabei stieß ich auf Knut Sturm aus dem Saarland. Mit ihm und den Förstern, mit Naturschutzverbänden und der Öffentlichkeit haben wir die Konzeption dann 1994 festgeschrieben. Sie wurde schließlich dem Stadtparlament zur Beschlussfassung vorgelegt und einstimmig beschlossen. Knut Sturm wurde 2010 mein Nachfolger und setzt unsere Konzeption mit großem Erfolg und Engagement fort.
OW: Wie groß ist eigentlich der Lübecker Stadtwald?
LF: 5.400 Hektar umfasst die gesamte Fläche, davon sind etwa 5.000 Hektar reine Waldfläche. 1986 hatten wir 290 Kubikmeter Holzvorrat pro Hektar, 400 Kubikmeter pro Hektar waren es, als ich wegging. Wir haben immer nur die Hälfte dessen genutzt, was nachwuchs. Das addierte sich in meiner Dienstzeit auf eine halbe Million Kubikmeter Holzvorrat zusätzlich.
OW: Wie ist die Zusammensetzung nach Arten?
LF: Heute sind es etwa 85 % Laubwald und 15 % Nadelwald. Damals mussten wir vorwiegend Nadelbäume rausnehmen, um die Naturnähe zu erhöhen. Denn von Natur aus müssten hier eigentlich 60 bis 65 % Buchenwälder wachsen, der Rest wären Eiche, Esche, Ahorn und andere Laubbäume. Unsere Böden sind dank der letzten Eiszeit vor erst 15.000 Jahren noch jung und substratreich. Hier würden sich, wenn man sie ließe, Buchen stark verbreiten. Die einzigen Nadelbäume, die von Natur aus hier wachsen würden, wären Kiefern als Pionierbäume und Eiben. Eichen kommen aktuell auf 25 % Anteil, natürlicherweise wären es aber nur 8 bis 10 %. Buchen bedeckten am Anfang meiner Dienstzeit 25 %, aktuell sind es mehr als 30 % der Fläche. Esche und Ahorn haben nochmals einen Anteil von 10 bis 15 %.
OW: Wie alt darf bei Ihnen die Eiche oder Buche werden?
LF: Das kann man pauschal nicht sagen. Zehn Prozent der Waldfläche bewirtschaften wir als Referenzflächen überhaupt nicht mehr. Da gibt es keinerlei Altersbegrenzung. Buchen können 500, Eichen 1.000 Jahre alt und älter werden. Die Ausweisung dieser Referenzflächen erfolgte repräsentativ zum Vorkommen der einzelnen Baumarten und der Bodenverhältnisse. Insgesamt sind es acht Teilflächen mit zusammen 500 Hektar. Dann haben wir auf das bewirtschaftete Baumvolumen bezogen den zehnprozentigen Anteil an Biotop- oder Habitatbäumen bzw. Totholz. Wir liegen aktuell bereits bei 17 %. Der verbleibende Wald wird bewirtschaftet. Wir haben zur Bestimmung des reifen Baumproduktes Zieldurchmesser statt Altersvorgaben definiert. 70 Zentimeter Brusthöhendurchmesser, der wird in 1,30 Meter Höhe gemessen, sind es bei Buchen. Bei Eichen, etwa wenn sie krummgewachsene Stämme haben und nur als Bauholz taugen, liegt der Zieldurchmesser ebenfalls bei 70 Zentimetern. Bei Furnierholzbäumen, das sind Eichen höherer Qualität, ernten wir ab 80 Zentimetern. Zur Pflege bzw. Durchforstung gehen wir z. B. in Buchenbestände bis zu einem Durchmesser von 20 Zentimetern, das entspricht einem Alter von ca. 40 Jahren, überhaupt nicht hinein. Die Natur regelt vieles selbst. Wir erkennen in diesem Alter bereits, welcher Baum den Konkurrenzkampf überlebt, welcher den falschen Standort gewählt hat usw. Nach 40 Jahren sehen wir bereits, welcher Stamm gesund und hoch gewachsen ist. Andere entnehmen wir. Danach greifen wir in den nächsten 40 Jahren nur noch drei- bis viermal bis zum Erreichen des Zieldurchmessers ein. Dann folgt die Endnutzung einzelner Stämme. Die Buchen, die wir dann ernten, sind ca. 130 bis 160 Jahre alt oder auch älter. Ziel ist es, einen unterschiedlich alten Wald zu entwickeln, einen Dauerwald. Bei der Eiche ist das wieder anders, die wächst nicht so schnell. Bisher lag das Erntealter bei 240 Jahren für die Funiereichen. Sie wird schließlich immer wertvoller, je dicker sie wird.
OW: Eine wichtige Maxime des Konzeptes ist das Minimumprinzip. Wäre das ein reines Kostenminimierungsprinzip, dann kämen Harvester bei Ihnen nicht mehr zum Einsatz – richtig?
LF: Nur zum Teil! Harvester habe ich zur raschen Entwicklung des Waldes tatsächlich zu Beginn der Umsetzung des Konzeptes eingesetzt. Damit habe ich dicht bestandene Flächen mit Douglasien, Fichten und Kiefern auflockern lassen. Dazu boten sich arbeitstechnisch in diesen Dickungen Harvester an. Nach dem Minimumprinzip haben wir aber bereits damals die Abstände der Rückegassen, den Transportwegen, vom 20 Meter-Abstand auf 40 Meter Abstand vergrößert und gehen heute sogar auf einen Abstand von 80 Metern. Der Grund liegt in der unsäglichen Verdichtung des Bodens durch die tonnenschweren Geräte. Dazu tragen natürlich auch frostarme und feucht-milde Winter bei. Mein Nachfolger setzt keine Harvester mehr ein. Die meisten naturfernen jungen Forsten sind bereits überführt in naturnähere Wälder. Da sich die verdichteten Böden erst nach Jahrzehnten bis Jahrhunderten wieder erholen können, versuchen wir die Auswirkungen unserer Eingriffe zu minimieren. Alle Eingriffe wollen wir mit dem ökologisch geringstmöglichen Nachteil für den Wald und den Boden vornehmen. Mit der Wiederentwicklung einer natürlichen Waldgesellschaft wäre der Wald evolutionstechnisch optimiert. Wir wollen diese so kostenlose und optimal konstruierte Ressourcenproduktion so wenig wie möglich beeinträchtigen. Der klassisch ausgebildete Förster greift 20- bis 25-mal im Verlaufe von 100 Jahren ein, wir hingegen nur 3- bis 4-mal. Das bedeutet selbstredend auch gewaltige Einsparungen an Manpower, einer Reduktion von Rückegassen und Wirtschaftswegen und Geräten. Durch die geringen Störungen produziert das System Wald bei uns sogar wesentlich mehr Holz. Also, geringere Störung, geringere Kosten und mehr Holzzuwachs.
OW: Wie wird heute im Lübecker Stadtwald Holz geschlagen und abtransportiert?
LF: Wir gehen zum einzelnen Baum, setzen Rückepferde oder Seilzüge ein, um die Stämme zum nächstgelegenen Transportweg zu verbringen. So ein Kaltblüter kann bis zu einer Tonne bewegen. Liegt das Gewicht darüber, seilen wir die Stämme mit Schleppern. Nun muss man sehen, dass wir im Klimawandel im Winter mehr Niederschläge und weniger Frost haben. Die Störungen des Waldbodens sind immer noch massiv und ökologisch und ökonomisch unvertretbar. Wir müssen auf Seilkräne umstellen. Damit werden die Stämme angehoben und so an den nächstgelegenen Weg gezogen. Das eigentliche Gewicht hängt an dem Seil. Dadurch verabschieden wir uns von den Verdichtungssünden der Vergangenheit.
OW: Was passiert durch die Bodenverdichtung genau?
LF: Der Boden wird durch darüberfahrende Maschinen verdichtet. Wir haben im Wald zwei wesentliche Produktionsstätten. Die eine ist die Krone, die Fotosynthese macht und Zucker herstellt für das Wachstum des Stammes und der Wurzeln, und wir haben zweitens den Boden, aus dem die Pflanzen Wasser und Nährstoffe entnehmen. Der Boden lebt. Die zig Milliarden Mikro-Lebewesen benötigen Wasser und Luft und zersetzen das Gestein, Laub und totes Geäst und halten das Wasser in Oberflächennähe. Fährt so ein tonnenschweres Gerät bei nasser Witterung und feuchten Böden darüber, dann werden etliche Zentimeter des Waldbodens zerquetscht, dort gibt es dann auf lange Sicht kein Leben mehr. Darüber staut sich das Wasser und nur noch Binsen wachsen darauf. Die Luft ist raus, das Regenwasser kann nicht mehr eindringen. Das Netzwerk an Wurzeln und Wurzelpilzen im Waldboden ist unterbrochen und tot.
OW: Kann man den Erholungswert eines Waldes ökonomisch berechnen?
LF: Ich wünschte mir das! Das würde der Konstitution der Wälder zugutekommen. Aber die Realität ist eine andere. Angaben über den Wert von Ökosystemdienstleistungen wurden in einer weltweiten Studie The Economics of Ecosystems and Biodiversity (TEEB), übrigens ausgehend von Deutschland, 2008 ermittelt. In Deutschland läuft das Projekt unter dem Begriff „Naturkapital Deutschland“ unter der Federführung des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung in Leipzig weiter. Logisch wäre, dass bei einer Monetarisierung dieser ökologische Wert viel höher ausfällt als der reine Holzwert des Waldes. Der Stadtwald von München bekommt von den Münchner Stadtwerken erhebliche finanzielle Zuwendungen, womit die Bedeutung bzw. die Leistung dieses Waldes, der übrigens nach dem Lübecker Konzept bewirtschaftet wird, für die stetige und verlässliche Wasserversorgung bezahlt wird. Es gab in den 1970er und 1980er Jahren auch eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten, die den immateriellen Wert eines Waldes quantifiziert haben. Demnach erbringt ein Großstadtwald etwa 400 Euro pro Jahr und Hektar an quantifizierbaren Dienstleistungen. Wir machen rund 100 Euro Reinertrag pro Jahr und Hektar überwiegend mit dem Holz des Lübecker Stadtwaldes. Der Wert der Ökosystemdienstleistung ist demnach ein Vierfaches höher. Nur bezahlt dafür halt keiner direkt. Heute kommt noch die überlebenswichtige Funktion von Wäldern zur Abmilderung des Klimwandels durch Festlegung es klimawirksamen Gases CO² hinzu. Für die Steigerung der Lebens- und Standortqualität ist ein solchermaßen wirkungsvoller Wald von größtem Wert für den Einzelnen, aber auch für eine Stadt als Wirtschaftstandort. Den Wert des Waldes erkennen wir Menschen aber leider erst richtig, wenn er nicht mehr da ist ...
OW: Hat Ihr Konzept Nachahmer gefunden?
LF: Ja! Zum Beispiel der Berliner Stadtwald, zugleich auch Landeswald, immerhin 29.000 Hektar groß, wird nach diesem Konzept entwickelt und bewirtschaftet. Den Münchner Stadtwald habe ich bereits erwähnt, die Stadt Hannover, die Bundesstadt Bonn oder die Mittelrheingemeinde Boppard und die Universitätsstadt Göttingen bewirtschaften und pflegen ihre Wälder nach unserem Konzept. Ganz aktuell ist eine von Greenpeace beauftragte und vom Freiburger Ökoinstitut verfasste Studie „Waldvision Deutschland“. Hier werden drei verschiedene Szenarien der Bewirtschaftung auf der Basis der letzten Bundes-Waldinventur von 2012 durch eine Simulation für weitere 90 Jahre hochgerechnet. Erstes Modell ist der Status quo, das zweite Modell ist die Ausrichtung auf maximalen Holzertrag und das dritte Modell beinhaltet letztlich das Lübecker Modell. Das Ergebnis ist im Effekt die Bestätigung unseres „Integrierten Prozessschutzes“. Wenn der Klimawandel abgemildert und der erschreckende Verlust an Biodiversität gestoppt und umgekehrt werden soll, dann muss mehr heimischer Laubwald wachsen. Die Wälder müssen dichter werden, die Zieldurchmesser für die Ernte müssen erhöht werden, und es muss eine Ausweitung des kompletten Flächenschutzes besonderer Artengemeinschaften geben. Dies sind allesamt Ziele unseres Modells. Im Übrigen erwirtschaftet unser Modell im Vergleich zur klassischen Forstwirtschaft nachweislich erheblich höhere Reinerträge pro Hektar. Die neue Studie hat im Landwirtschaftsministerium in Berlin und bei der traditionellen Forstwirtschaft wütende Proteste ausgelöst. Man darf gespannt sein auf eine sich daraus entwickelnde Fachdiskussion.
OW: Herzlichen Dank Herr Fähser!
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