Spuren.
Mein alter Traum: Ein paar Tage auf Schneeschuhen durch weiße Wälder wandern. Dass ich auf den Böhmerwald verfiel, lag an Adalbert Stifter. Ein paar seiner Geschichten, die dort spielen und von Schneestürmen und eiszapfenbehangenem Hochwald erzählen, haben die Fantasie in Gang gesetzt. Nun liegt das Moldautal unter mir. Der Lipno-Stausee, der die Talsohle auf 30 Kilometer Länge einnimmt, ist dick überfroren. [...] Obwohl ich zum ersten Mal in dieser Landschaft bin und trotz aller radikalen Umbrüche des 20. Jahrhunderts scheint sie vertraut. Das Schneeland vor mir ist die Landschaft, die Adalbert Stifter vor 150 Jahren beschrieb, jener »breite Waldesrücken« mit dem »Gewimmel mächtiger Joche und Rücken« an der »Mitternachtseite des Ländchens Österreich«. Ein Bändchen mit seinen Erzählungen habe ich im Rucksack. Für die langen Abende.
Der Weg in den Wald hinein ist verweht. Nur als gekrümmte Schneise ist er zwischen den Baumstämmen auszumachen. Hier ist seit Wochen niemand mehr gegangen. Niemand? Tierspuren kreuzen den Weg. Sie sind viel auffälliger als im Sommerwald. Die Vorderläufe hintereinander, die Hinterläufe links und rechts gesetzt: Spuren eines Hasen. Mittelfingertief ist er eingesunken, in Sätzen von einem halben Meter mühsam vorwärtsgehoppelt. Eine winzige Spinne läuft behände vorbei. Wenig später eine neue Fährte. Die ovalen Trittsiegel bilden eine durchgehende Linie. Ein Fuchs ist entlanggeschnürt und nach einer Weile in Richtung Mühltal abgebogen. Zu seinem Bau? Zu einer Stelle, wo er Beute zu machen hofft? Viele Waldtiere halten Winterschlaf oder Winterruhe. Mit dem Verwelken der Bodenvegetation im Herbst stellen die Tiere ihre Lebensäußerungen um. Sie ruhen sehr viel. Manche graben sich in Schneehöhlen ein. Sie drosseln die Temperatur in den Extremitäten, reduzieren den Energiebedarf ihres Körpers. So kommen sie mit sehr viel weniger und minderwertiger Nahrung aus.
Die Bäume haben ihre Wachstumsphase beendet. Das Gewebe der frischen Triebe ist verholzt. Die Blätter sind längst abgeworfen und die Blattstielnarben mit Kork verschlossen. Der Schnee schützt die Waldbodenpflanzen und deren Knospen vor dem Frost und bewahrt sie vor dem Erfrieren. Unter dem Schnee geht der Pulsschlag des Lebens, wenn auch stark verlangsamt, weiter. Ihr Existenzminimum finden die pflanzenfressenden Tiere in Form von Knospen und Nadeln. Die anderen Arten setzen ihre Beutezüge fort. Die kargen Spuren im Schnee erzählen von ihrem Leben und Überleben. Für das Wild, besonders für störanfällige Arten wie Raufußhühner, also Auer- und Birkhühner, kann es lebensbedrohlich werden, wenn sie öfter aus ihren winterlichen Ruheräumen aufgescheucht werden. Jede Fluchtbewegung bringt ihren Energiesparhaushalt durcheinander. In kalten Nächten gehen sie dann an Entkräftung und Unterkühlung zugrunde. Dieses Abc der Ökologie des Winterwalds muss auch ein Schneeschuhwanderer kennen. Die Gänge abseits der Wege quer durch den Wald, so verlockend sie sind, sollte man sparsam dosieren. Habitate der Raufußhühner sind auf jeden Fall zu meiden. Im Nationalpark Bayerischer Wald sind ihre Ruhezonen gekennzeichnet. [...]
Pracht.
Ich drossele das Gehtempo, um nicht stärker ins Schwitzen zu kommen, bleibe häufig stehen. Als ich zwischen Bäumen und Granitgeröll den Steilhang nach Svaty? Tomäs? hinaufstapfe, reißt die Wolkendecke. Die Himmelsbläue löst die harten schwarz- weißen Kontraste auf. Zwischen dem warmen Braun der Baumstämme und dunklem Tannengrün beginnt das kalte Weiß der Schneedecke und der Schneehauben auf den Ästen und Felsblöcken zu glitzern. Die Sonne enthüllt die »Pracht« – ein Lieblingswort Stifters – des Winterwalds. Ein weites Schneefeld bedeckt die Bergkuppe. [...] Der Weg führt wieder durch Fichtenwald. In der Ferne knattert eine Kettensäge. Ein Förster überholt im Geländewagen. Ein Reiter kommt auf einem starkknochigen Pferd entgegen. »Dobry den« – guten Tag! Ein alter Mann mit Bartstoppeln, Russenschapka, derber Joppe. Nach Koranda – wie viele Kilometer? Drei Finger gehen hoch, und eine Handbewegung: immer geradeaus. Die Grenze nach Österreich? Koranda, dann zwei Kilometer. Kommt man rüber? Niema problema.
Wildnis.
Koranda, der Rosenhügel, entpuppt sich als flache, weite Lichtung. Eine Holzbrücke überquert einen zwei, drei Meter breiten Wassergraben, der sich, überfroren und schneebedeckt, schnurgerade durch das Gelände zieht. Im tschechischen Reiseführer bekommt dieser eher unscheinbare Punkt in der Landschaft als »technikgeschichtliches Denkmal« drei Sterne. Die österreichische Tourismuswerbung spricht vom »(s)achten Weltwunder«. Ich habe den Schwarzenbergischen Schwemmkanal erreicht. Koranda ist die Stelle, wo man das Holz eine kurze Strecke bergauf geflo?ßt hat. Hier überquert der Schwemmkanal die kontinentale Wasserscheide und senkt sich ins Tal der Großen Mühl, die er auf der österreichischen Seite bei Haslach erreicht. Über den Rosenhügel wurde im 19. Jahrhundert das Holz in Scheiten von den Höhen des Böhmerwaldes zur Großen Mühl und weiter zur Donau geflo?ßt. 30 Bäche speisten den Kanal während der Schwemmperiode zur Zeit der Schneeschmelze. Bis zu 1000 Saisonarbeiter, die »Scheiterbehm«, waren mit der Holztrift beschäftigt. Unter Ausnutzung der erneuerbaren Energien von Wasser und Muskelkraft wurde 100 Jahre lang die Kaiserstadt Wien mit Millionen Festmetern des nachwachsenden Rohstoffs versorgt. Stifter lebte, als Holzeinschlag und Flo?ßerei im Böhmerwald ihren Höhepunkt erreichten. Das spektakuläre Bauwerk hat er nur ein einziges Mal erwähnt. Vermutlich sah er in dem Meisterwerk der Ingenieurskunst vor allem die Ursache für die vielen »Baumfriedhöfe«, die Kahlschläge in den heimatlichen Wäldern. Stifters »sanftes Gesetz« beruht auf einem tieferen Respekt vor dem Wirken der Elemente und dem Haushalt der Natur. Sein Wald ist kein Ressourcenlager, sondern ein Organismus. »Denken wie der Wald« fordert die junge Bertha in Stifters Roman »Witiko« von ihrem künftigen Ehemann. Die nachwachsenden Rohstoffe pfleglich nutzen, ihre Regenerationszeiten beachten, die Artenvielfalt bewahren, »jungfräulichen« Wald und »göttliche« Wildnis schützen – all das gehört unverzichtbar zum »Sittengesetz« der Nachhaltigkeit. Stifters »sanftes« Ge- setz huldigt Gaia, lebensspendende Sphäre des Planeten.
Stille.
Ein Wegweiser: 1,8 Kilometer bis zum Iglbachdurchlass. Ich schnalle die Schneeschuhe wieder unter, folge auf der Böschung diesem ältesten Abschnitt des Schwemmkanals. Zwischen Fichtenstämmen und Uferböschung stapfe ich durch unberührten Schnee. Die Stille des Winterwalds nimmt mich auf. Es ist nicht die durch Vogelstimmen, Insektensummen, Windrascheln und plätscherndes Wasser grundierte, lebendige Ruhee des Sommerwalds. Diese hier ist abgrundtief. Unter und neben den Atemzügen werden Herzklopfen und Pulsschlag hörbar. Ich muss mich längst nicht mehr auf die Bewegungsabläufe konzentrieren, muss auf keinen Weg achten. Beim monotonen Gehen durch das weiße Schweigen kann man in sich selbst einsinken. [...]
Versteck.
Sonnenaufgang 7 Uhr 27. Klirrender Frost, völlig klarer Himmel, Windstille. Von der Moldaubrücke in Nova? Pec ist der mächtige Bergzug zwischen Hochficht und Dreisesselberg zu überblicken. Irgendwo in den bewaldeten Berghängen versteckt liegt der Plöckensteiner See, mein letztes Ziel. Die Straße geht sanft, aber stetig bergauf, über eine Bahnlinie, an einem modernen Sägewerk, einer Arbeitersiedlung und Ferienhäusern vorbei zum Waldrand. Sie ist geräumt, aber an manchen Stellen tückisch vereist. Auf einer Wiese am Ortsende stakst ein Reh durch den tiefen Schnee, sinkt fast bis zum Bauch ein. Ein kurzer Blick zurück ins Tal, die Schneeschuhe angeschnallt. Dann nimmt mich der Wald, Stifters »Hochwald«, auf. Er ist heute ein ausgedehnter Bergfichtenwald, mit Tanne, Eberesche, Bergahorn und Buche gemischt. Je höher man kommt, desto urwüchsiger wird er. Stamm an Stamm, im Abstand von sechs, sieben, manchmal zehn Schritten stehen die hohen Fichten am Hang. Die großen Äste sind von schweren Schneehauben heruntergebogen, die Schäfte an der Wetterseite von weißen Leisten überzogen. Unter der Schneedecke die kugeligen Gestalten weihnachtsbaumgroßer Jungfichten und Granitblöcke. Am Seebach erreicht man das »Tal der Hirschberge«, den Ort, wo in Stifters Novelle »Der Hochwald« die Flüchtlinge ihrem Beschützer, dem alten, weisen, ritterlichen Gregor begegnen, der sie in ihr Versteck am Plöckenstein bringen wird. Der Wald wird lichter, der Weg zu einer breiten Schneise. Beim Versuch, am Bach meine Flasche zu füllen, bricht die Schneebrücke, auf die ich mich vorgewagt habe. Um ein Haar hätte sie mich in das eisige Wasser mitgerissen.
Magie.
Dann ein magischer Moment meiner Winterwanderung: Die aufgehende Sonne hat den Punkt ihrer Bahn erreicht, von dem aus sie den Hang, den ich gerade emporsteige, voll beleuchtet. Überall um mich herum beginnen Millionen Schneekristalle zu funkeln und zu glitzern. Bei jedem Schritt erlischt ein diamantenes Feld, und ein neues scheint am Boden auf. Die Sonnenstrahlen bringen das Wunder des Schneekristalls zum Vorschein. Jede Schneeflocke, weiß man, ist anders. Jede ist eine ureigene, freie Variation der ihr vorgegebenen sechseckigkristallinen Struktur. In jeder hat sich hoch oben in den Wolken der Zusammenschluss des Wassermoleküls mit der Luft in einer anderen Gestalt vollzogen. Jede ist in ihrem freien Fall zur Erde zu einem komplexen und symmetrischen, einzigartigen Gebilde gewachsen, das, wenn es schmilzt, für immer verloren ist.
Unendliche Vielfalt, Schönheit und Vergänglichkeit. Die glitzernden Flächen ringsum, der weiße Wald, der blassblaue Himmel verbinden sich zu einem Bild makelloser Schönheit. »Terra lucida«, lichterfüllte Erde, sagten die Mystiker. Die Anstrengungen der letzten Tage fallen von mir ab. Aus den Bewegungen ist jede tapsige Schwerfälligkeit verschwunden. Ich habe das Gefühl eines harmonischen Schreitens durch den Winterwald. Ein exquisites Er- lebnis. Der letzte Anstieg ist ein schmaler Steig durch eng stehende junge Fichten. Ab und zu streift mich ein Ast. Schnee stäubt. Ich bin der Erste, der an diesem Morgen hier geht. Eine verwehte Spur, kaum noch erkennbar, weist den Weg. Zwischen den Stämmen erscheint eine ebene Fläche. Dann bin ich am Ziel. Ein fast runder See, überfroren, verschneit, umgeben von einem Kranz schmaler Bergfichten, vor einer steil aufragenden, mächtigen Felswand. Der Plöckensteiner See, Stifters »Zaubersee«. Tiefe Einsamkeit, tiefe Ruhe.