Das Nationale Naturmonument „Grünes Band Sachsen-Anhalt“ erstreckt sich entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze über 343 Kilometer von den Elbauen im Norden bis zum Harz im Süden des Bundeslandes. Auf seinem Weg verbindet es Naturschutz gebiete und Biotope mit einzigartigen Erinnerungsorten deutscher Geschichte.
Weitere Infos: www.gruenesbandlsa.de
Auf dem Hof Dammkrug von Jens Wede und Melissa Schmidt in Güssefeld können auch Menschen wie ich ohne eigenes Pferd Reiturlaub machen. Nach der Ankunft steht zuerst eine Reitstunde auf dem Programm. „Wir verleihen Pferde nicht wie Fahrräder“, sagt Jens. Das macht ihn mir gleich sympathisch. Er wird mich auf meinen Ausritten begleiten und auch mein Pferd, Jade, sieht vertrauenerweckend aus. Dösend, mit hängender Unterlippe steht sie da und lässt sich von mir den Staub aus dem dunklen Fell bürsten. Als wir mit einigen anderen Reitschülerinnen den Reitplatz betreten, versuche ich mich so unauffällig wie möglich einzureihen und die Anweisungen der Reitlehrerin zu befolgen. Gerne würde ich Jade mitteilen, wie sehr ich mich bemühe, nicht auf ihr herumzuhoppeln; meine letzte Reitstunde ist viele Jahre her. Seitdem habe ich mich aber immerhin auf verschiedenen Pferden und Ausritten als sattelfest in den drei Gangarten erwiesen. Auch den Proberitt mit Jade bestehe ich.
Weiche Knie, leerer Kopf
Für den nächsten Tag hat sich Jens einen gut 30 km langen Rundritt ausgedacht. Zuerst geht es gemütlich im Schritt über einsame Feldwege. Wir plaudern und ich genieße das besondere Gefühl des Aufbruchs. Unser Weg ist nicht ausgeschildert, aber in Sachsen-Anhalt ist Reiten überall dort erlaubt, wo es nicht ausdrücklich verboten ist. Jens weiß, über welche Felder wir reiten können und wo die besten Galoppstrecken sind. Als er später den ersten Galopp durch eine große Wiese ankündigt, bin ich etwas nervös. „Zügel nachfassen“, höre ich die Stimme meines früheren Reitlehrers im Kopf, „tief sitzen“. Doch Jade weiß schon, was jetzt kommt, und fällt hinter der anderen Stute in den Galopp.
Augenblicklich höre ich, wie die Beine der Pferde durch das hohe Gras schneiden, gemischt mit einem dumpfen Donnern der Hufe. Mein Körper kann gar nicht anders, als sich im Rhythmus mitzubewegen. Erst nach ein paar hundert Metern, am Ende der Wiese, bremst Jens ab und wir fallen zurück in den Schritt. Ich fasse die Zügel wieder nach, sortiere mich – geht doch. Mein Selbstvertrauen wächst ab jetzt mit jedem Galopp.
An der Ruine Apenburg machen wir einen ersten Stopp. Etwas unsanft rutsche ich am Sattel herunter und besichtige das Innere der alten Mauern. Wie viele Kirchen in der Altmark, ist die Burg zum Teil aus Feldsteinen erbaut, was ihr einen besonders altertümlichen und romantischen Anschein verleiht. Jahrtausendelang konnten sich diejenigen glücklich schätzen, die ein Pferd besaßen, um kürzere oder längere Strecken zurückzulegen. Heute scheint das Reiten durch Wald und Flur fast aus der Zeit gefallen. Glücklich macht es immer noch. Am Ortsrand von Apenburg machen wir Mittagspause. Wir satteln ab und lassen unsere Pferde auf einem eingezäunten Wiesenstück grasen, während wir ein Picknick machen.
Danach geht es ausgeruht weiter durch Kiefernwälder, Heideflächen und noch mehr Felder. Auf unseren Wegen begegnet uns den ganzen Tag kein Mensch. Nur in einem kleinen Dorf grüßen zwei ältere Damen. Man kennt sich. Die Hufeisen klingen laut auf den gepflasterten Straßen und hallen von den nahen Hauswänden wider. Ansonsten tut sich nicht viel, Geschäfte gibt es nicht, es ist aufgeräumt und idyllisch wie in einem Museumsdorf. Jens pflückt Zwetschgen vom Baum, die wir direkt auf dem Pferd sitzend verspeisen. Dann trotten wir gedankenverloren hintereinander her. Mein Pferd schaut mindestens genauso gern links und rechts wie ich. Ich genieße das sanfte Hin- und Herschaukeln, bis wir wieder ein Stück traben oder galoppieren. Nach fünf Stunden im Sattel steige ich mit furchtbar weichen Knien, aber unfassbar zufrieden ab. „Und, wie war´s?“, fragt die Reitlehrerin. Ich kann nur mit einem Lächeln antworten, mein Kopf ist völlig leer und sie schmunzelt wohlwissend.
Wilde Wiesen und planschende Pferde
In den Reitferien wird der Hof Dammkrug und dessen Heuboden von Kindern bevölkert, die für die gesamten Ferien je ein bestimmtes Pferd zugeteilt bekommen. Außerhalb der Ferien müssen ca. 30 Reitpferde und Ponys auf Tagesgäste, Reitschüler und Urlauber verteilt werden. Beim gemeinsamen Frühstück mit Jens, Melissa und der Reitlehrerin lausche ich fasziniert den fachkundigen Gesprächen, während die ersten Kinder zum Ponyreiten eintreffen. Für mich und Jade, offenkundig das bravste Pferd im Stall, steht ein weiterer Ausritt an, heute mit zusätzlichem Schaffell über dem Sattel. Ich sei jedoch nicht die Erste, die sich bei dem langen Ritt etwas aufgescheuert habe, verrät Melissa mir augenzwinkernd. Wir verlassen den Hof entlang eines Waldrandes und reiten auf einem wunderschönen Blühstreifen mit Gräsern und Blüten, die den Pferden bis zum Bauch reichen. Dann biegen wir ab ins Unterholz. Ich vertraue darauf, dass Jade den sichersten Weg im steilen Gelände findet, und ducke mich unter einigen Ästen hindurch, bis wir den Gipfel des Dolchauer Bergs erreichen. Er ist zwar nur 99 Meter hoch, doch in der flachen Altmark bietet er einen unendlich weiten Ausblick.
Noch schöner ist jedoch der folgende Ritt hinunter durch eine wilde Wiese mit Sonnenblumen. Unser Ziel ist das Landhotel Mehrin. Wir reiten durch das Tor des Vierseitenhofs, eine häufige Bauform in der Altmark, und stellen unsere Pferde in zwei leere Boxen für eine Mittagspause. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Gäste, die mit ihren Pferden hierherkommen, wie auf einem eigenen Gestüt fühlen. Oder sogar besser, denn es gibt keine vorgeschriebenen Stallzeiten, dafür freie Auswahl bei den Koppeln. Sogar Kutscher mit ihren Pferdegespannen machen hier Urlaub und nutzen den eigens für sie angelegten Fahrplatz mit Hindernisparcours. Inhaber Thomas Schulz erzählt uns von einem Stammgast, der gerade anrief: „Er saß gerade auf seinem Pferd und hat sich so über die Asphaltwege in seiner Heimat geärgert, dass er gleich den nächsten Aufenthalt hier in der Altmark gebucht hat.“
Vorbei an einer hübschen Feldsteinkirche verlassen wir den Hof und reiten entlang eines Wassergrabens zwischen zwei großen Wiesen. „Mal sehen, ob die beiden Lust haben, ins Wasser zu gehen“, sagt Jens erwartungsvoll und lenkt seine Stute hinunter an eine Furt. Vorsichtig stellt sie ihre Vorderhufe auf die rutschigen Steine, macht den Hals ganz lang und prustet einmal laut ins Wasser. Dann scheint sie Gefallen an der Idee zu finden, geht in den Graben und beginnt, mit einem Vorderhuf ins Wasser zu schlagen. Jade will jetzt auch und so sitzen Jens und ich uns auf den Pferden gegenüber und lassen sie planschen. Pam, pam, plomp – das Geräusch der schlagenden Hufe im Wasser übertönt mein Lachen.
Dass wir später dem Hof Dammkrug näherkommen, merke ich daran, dass Jade inzwischen von allein anfängt zu traben. Sie versäumt es jedoch nicht, unterwegs noch eine Maispflanze als Snack auszureißen. Noch einmal galoppieren wir über ein Stoppelfeld und überholen dieses Mal sogar Jens und sein Pferd, die bisher immer vor uns waren. Ich stehe in den Steigbügeln – das habe ich jetzt geübt – halte mich an Jades Mähne fest, die im Wind auf und ab flattert, und lasse sie einfach laufen. Alles um mich herum verschwimmt und ich spüre nur noch die kraftvolle Bewegung unter mir.
Elbe, Äpfel und Galopp
Die nächsten Tage verbringe ich auf einem zweitägigen Wanderritt an der Elbe mit Eike und Lucy. Lucy ist mein neues Leihpferd: schwarz, Stockmaß 160 cm, bis zur Schulter also fast so groß wie ich. Eike Trumpf ist Mitbegründer des Vereins Sternreiten in der Altmark: grauer hochgezwirbelter Schnäuzer, Körpergröße vermutlich 170 cm, etwas größer als ich.
„Was in Kanada funktioniert, das geht in der dünnbesiedelten Altmark auch“, dachte sich Eike, zeichnete Reitwanderwege auf, organisierte mehrtägige Wanderritte durch die Altmark und gründete den „Interessenverband Sternreiten“ in der Altmark, zu dem unter anderem elf Reiterhöfe gehören. Ich übernachte in einem Gästezimmer auf dem Reiterhof von Eikes Bruder, Uwe Trumpf, wo Lucy zuhause ist. Die Brüder Trumpf sind Nachbarn in Hohenberg-Krusemark, einem kleinen Ort am Elberadweg. Auch die Elbe-Havel-Tour, ein dreitägiger Trailritt, führt direkt an ihren Haustüren vorbei.
Nach einem kleinen Proberitt mit Lucy brechen wir am Mittag auf. Eikes Pferd Orkan trägt meine Zahnbürste und Wechselkleidung in einer Packtasche am Sattel. Wir werden auf der anderen Seite der Elbe übernachten und morgen zurückkehren. Abgesehen von einer anfänglichen Unstimmigkeit – Lucy möchte zur Weide, ich zur Elbe – aufgrund derer wir uns beinahe rückwärts in einen Graben manövrieren, verstehe ich mich gut mit ihr. Ab jetzt sehe ich die Welt stets durch ihre nach vorn gerichteten Ohren.
Wir traben über Feld- und Wiesenwege und galoppieren durch eine mit Gras überwucherte Obstbaumallee. Einige Äpfel hängen so schwer und tief, dass sie mir im Galopp gegen den Kopf schlagen. Dank meines Reithelms macht mir das jedoch nichts aus. Ich bin im Flow, in einem Rausch aus Geschwindigkeit, Dynamik und Adrenalin. Als wir später ein abgeerntetes Feld überqueren, merke ich allerdings, dass Lucy noch viel schneller kann. Eine wehende und glänzende Plane, mit der eine Familie am Feldrand Äpfel erntet, versetzt beide Pferde in Panik. Sie sind auf der Flucht und jagen in vollem Galopp davon. Wir haben alle Hände voll zu tun, die beiden zu bremsen und mein Herz klopft noch heftig, als Lucy und Orkan wieder Schritt gehen. Als Fluchttiere sind Pferde immer wachsam und aufmerksam. Irgendwie überträgt sich das auf mich, ich bin konzentriert, reduziert auf den gegenwärtigen Moment. Meine Gedanken kommen und gehen, während wir durch die Landschaft ziehen.
Am Nachmittag überqueren wir den Elberadweg und biegen auf einem sandigen Pfad in die Elbauen ab. Riesige Pappeln und knorrige Weiden stehen in einem Meer aus grünen und braunen Gräsern, nur wenige Meter entfernt die zäh fließende Elbe mit ihren typischen noch nicht begradigten Einbuchtungen. Jeden Winter, manchmal auch im Sommer, sind die Elbauen für zwei bis drei Wochen überflutet. „So viel Platz geben wir der Elbe“, bemerkt Eike, wissend, dass kaum ein anderer Fluss in Deutschland noch so frei (über)fließen kann.
Für uns gibt es außerdem viel Platz zum Galoppieren, bis zu zwei Kilometer am Stück. Unsere Pferde bleiben ungern lange stehen, aber für einen Moment sitze ich da auf Lucy, lasse den Blick über die unendlich weite Wiese schweifen und habe das Gefühl, nach den dicken weißen Wolken am blauen Himmel greifen zu können.
Um an unseren Übernachtungsort zu gelangen, müssen wir auf die andere Elbseite. Dass wir dazu die Fähre nehmen mit den Pferden, ist für Eike ganz selbstverständlich. In der Nähe des hübschen Ortes Arneburg mit seiner spektakulären Aussichtsplattform über der Elbaue, verkehrt eine Gierseilfähre, die ausschließlich durch die Kraft der Flussströmung angetrieben wird. Als die Fähre anlegt und zwei Autos ihren Platz gefunden haben, führen wir unsere Pferde am Zügel auf die scheppernde Ladefläche. Lucy ist das nicht so ganz geheuer und steht mit hocherhobenem Kopf da. Ich bin jedoch ganz froh, kurz absteigen zu können. Drei Tage hintereinander im Sattel sitzen und die Bewegungen des Pferdes abfedern, ist für meine Knie eine ungewohnte Belastung. Nachdem wir am anderen Ufer die Deichscharte passiert haben, schnauben beide Pferde um die Wette. „Das klingt herrlich“, sagt Eike, „die Pferde sind entspannt.“
Ich habe unterwegs jegliches Gefühl für die Zeit verloren und bin überrascht, als wir in Neuermark-Lübbars auf dem Reiterhof Kuhn eintreffen. Freundlich nimmt uns Norbert Kuhn in Empfang und hilft uns sogleich beim Absatteln und Versorgen der Pferde. Mit der Satteltasche unter dem Arm, lasse ich mich auf einen Gartenstuhl plumpsen und den Tag Revue passieren. Doch bevor ich später schlafen gehe, will ich noch einmal nach Lucy und Orkan sehen. Sie stehen in einem frisch eingestreuten Stall und kauen genüsslich auf ihren Heuhalmen herum. Einen Moment hocke ich mich hin und genieße die Erfahrung, mit Pferden durch die Altmark von einem Ort zum anderen geritten zu sein.
Weitere Infos:
Zum Wanderreiten: www.sternreiten.de
Zur Altmark: www.altmark.de
Zum Grünen Band: www.sachsen-anhalt.de
Svenja Walter
Erschienen in der OutdoorWelten Sommerausgabe 2021.
Diese und alle weiteren Ausgaben sind im Shop unter www.wandermagazin.de erhältlich.