Kunst aus der Vogelperspektive: Rheinbrückenmalerei
an der Rheinpromenade © Merlin Kiesel

Aber welche Route ist die richtige, um dem europäischen Gedanken Rechnung zu tragen? Hier fällt mein Blick auf den Hanse-Radweg. Er verbindet auf 450 km zwischen Neuss bei Düsseldorf bis Harderwijk im nördlichsten Gelderland 14 Orte, die einst Teil der Hanse waren. Es geht entlang der wichtigen Wasserstraßen Rhein, Waal und Ijssel, die seit dem Mittelalter essentiell für den Warentransport vom Festland zu den Seehäfen sind. So bekommt mein persönliches paneuropäisches Projekt eine historische Perspektive. Ausgesucht habe ich mir Etappe drei und vier des Hanse-Radwegs. Damit nachzuführt mich der Weg von Emmerich am Rhein über Nimwegen nach Doesburg. Mit meinem Start- und Zielpunkt sind zwei Hansestädte verbunden, was mir die historische Bedeutung der grenzübergreifenden Kooperation noch einmal vor Augen führt.

Das goldene Tor am Rhein

Ich starte nicht ganz in Emmerich, sondern in Wissel bei Kalkar – auch eine Hansestadt. Hier kann ich mir aus dem Fahrradverleih meines Onkels ein Gefährt für die Reise leihen. Schon bin ich in der typischen Niederrheinlandschaft: weite Wiesen gespickt mit Bäumen und Büschen, auf denen vornehmlich Kühe und Schafe grasen, dahinter stetig fließend Vater Rhein, der hier die Binnenschifffahrt vorantreibt. Auf der anderen Rheinseite zeichnet sich der eigentliche Startpunkt der Etappe, Emmerich, ab. Und im Westen der Silhouette die rot-leuchtende Rheinbrücke. Im Moment ist die längste Hängebrücke Deutschlands teilweise verpackt, denn alle paar Jahre muss die über 50 Jahre alte Stahlkonstruktion neu gestrichen werden. Durch ihre Länge ist die Steigung über die „Golden Gate vom Niederrhein“ angenehm und so radele ich mit Blick nach Emmerich zur Rechten und in die Niederlande zur Linken über den Fluss.

Das herrschaftliche Huis Bergh bei S'Herrenberg © Merlin Kiesel

In Emmerich fahre ich über den Geistmarkt, wo gerade Wochenmarkt ist, und lasse die gotische St. Martinikirche mit der reichen Schatzkammer, das Rheinmuseum und das Rathaus hinter mir. Dann biege ich durch das Krantor zur Rheinpromenade ab. Restaurants und Cafés reihen sich aneinander und wäre es nicht ein wolkenbehangener Herbstmorgen, würden hier sicherlich Einheimische wie Touristen gemütlich flanieren. Nach einem Blick auf den Industriehafen mit seinen riesigen Kränen fahre ich am Bahnhof vorbei stadtauswärts. Hier stellt sich wieder die regionaltypische Landschaft mit Feldern und Wiesen ein. Die Sonnenblumen lassen zwar schon die Köpfe hängen, dafür sehe ich riesige Haufen an Sellerie und Kartoffeln, die gerade frisch vom Feld kommen. Ich umfahre im großen Bogen die Stadt und erreiche bald Borghees. Vom Knotenpunkt 86 lohnt sich hier ein Abstecher zum Schlößchen Borghees (Knotenpunkt 88). Im niedlichen Anwesen aus dem 17. Jh. gibt es regelmäßig Veranstaltungen wie Konzerte oder Theateraufführungen.

Grenzchen wechsel dich

Windige Verhältnisse am Niederrhein © Merlin Kiesel

Wieder zurück auf dem Weg, radele ich über eine Autobahnbrücke schnurstracks in die Niederlande. „Tach“ und „Moin“ wird zu “Hoi“ und „Goede Morgen“. Kurz hinter der ersten obligatorischen Windmühle erreiche ich Huis Bergh. Das Schloss aus dem 13. Jh. liegt imposant inmitten eines weiten Grabens. In der Gastronomie im Schlosshof kann man im mittelalterlichem Ambiente nach 15 km eine erste Pause einlegen. Doch ich bin noch fit und fahre weiter. Bald biege ich in das Naturschutzgebiet Bergersbos/Eltenberg ein, das sich länderübergreifend über die Hügel zieht. Zauberhafte Mischwälder, wilde Wiesen und abwechslungsreiche Aktivitäten begeistern Besuchende. Während ich an Familien beim Wochenendspaziergang vorbeifahre, rauschen Rennradfans auf dem befestigten Radweg an mir vorbei und links und rechts huschen immer wieder Mountainbikende über die vielen extra für sie angelegten Strecken. Dass ich aus dem niederländischen Bergersbos mittlerweile im Gebiet des Eltenberg wieder auf deutschen Boden bin, realisiere ich erst nach einer Weile. Sobald ich den Wald verlasse, ergibt sich ein wundervoller Ausblick über Elten, das in der Hügellandschaft liegt. Das Städtchen hat eine bewegte Grenzgeschichte: Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet 1949 den Niederlanden zugesprochen. 1963 ging Elten dann wieder an Deutschland zurück. Noch heute ist ein erheblicher Teil der Eltener Niederländer und das Gebiet ist in drei Himmelsrichtungen von den Niederlanden umgeben. Mit dem Ortsausgangsschild befinde ich mich auch sofort wieder auf niederländischen Boden.

Fietsen im Naturschutzgebiet Bergherbos © Merlin Kiesel

Entlang des Natur- und Erholungsgebiets Carvium Novum fahre ich weiter Richtung Rhein. Am Fluss heißt es dann gleich auf die Fähre und Übersetzen nach Millingen am Rhein, wo sich der Fluss in Niederrhein und Waal teilt. In der Gaststätte am anderen Ufer ist die Bedienung zwar amüsiert über meine Niederländisch- Versuche (mir fällt nicht ein, dass das Wort für „bezahlen“ auf niederländisch „betalen“ ist), ich schaffe es aber trotzdem einen Panne-koeken zu bestellen. Gut gestärkt führt mich der Weg entlang der Waal in das Naturschutzgebiet Millingerwaard. Besonders an den malerischen Auwäldern: freilaufende Galloway-Rinder und Konik-Ponies, die den Pflanzenbestand kontrollieren. Außerdem darf man die ausgeschilderten Trampelpfade abseits des Hauptweges, den ich fahre, zu Fuß erkunden und hat die Chance Biber, Füchse oder Rotwild zu treffen. Parallel zur Waal radele ich durch Ooij und über den Damm durch das Naturschutzgebiet Ooijpolder. Auf den vielen Tümpeln und kleinen Seen sammeln sich Zugvögel. Grau- und Silberreiher nennen die Region ganzjährig ihr Zuhause genauso wie Weißstörche und viele kreischende Möwen. Noch in Gedanken bei den fröhlich flatternden Vögeln, falle ich fast vom Fahrrad, als ich an der Waal entlang nach Nimwegen fahre. Alles blinkt und leuchtet bunt: Herbstkirmes! Doch auch ohne Festivitäten und Fahrgeschäfte begeistert die Stadt. Von der St. Stevenskerk am Groote Markt und der Malerischen Altstadt hin zu hippen Cafés und ganz viel Streetart gibt es eine Menge zu entdecken.

Der herbstliche Weg zur Hansestadt

Eisamer Angler im Vogelschutzgebiet Ooijpolder kurz vor Nimwegen
© Merlin Kiesel

Am nächsten Morgen zeigt sich der Oktober von seiner unsympathischen Seite: Es regnet in Strömen. Trotzdem schwinge ich mich auf meine Fiets, wie man in den Niederlanden zum Rad sagt, und mache mich auf den Weg nach Norden. Von der Brücke über die Waal habe ich noch einmal einen Blick auf die Stadt hinter grauem Regenschleier. Durch den Vorort Lent schlängelt sich der Hanse-Radweg entlang von Feldern und Wiesen. In Elst ragt der spätgotische Turm der Sint Maartens-kerk aus dem Stadtbild hervor. Hier macht die Route einen Knick, um durch das Dörfchen Driel wieder den Niederhein zu erreichen. Ich warte kurz auf das sonnengelbe Fährbötchen, das im Regengrau unnatürlich zu leuchten scheint. Der Fährmann, der das Boot heute mit seinem Sohn führt, erzählt mir, dass ich in anderthalb Stunden Betrieb an diesem Sonntagmorgen erst der vierte Gast sei. Dieses Wetter ist einfach nicht für Radtouren gemacht.

Das Stadtbierhuys in Doesburg an einem schönen Tag © Marketing Oost

Auf der anderen Flussseite kommt die Höhenetappe des Tages: Die Hügel von Arnheim bäumen sich immerhin ganze 32 Meter auf. Trotz der geringen Höhe kommt mir der Weg beim Regen beschwerlich vor. Am Bahnhof von Arnheim radele ich vorbei zur Altstadt. Würde es nicht noch immer aus Eimern gießen, wäre ich gerne durch die süßen Gassen geschlendert. So bleibe ich auf meinem Drahtesel sitzen und strample voran. Südlich der Stadt trennt sich vom Niederrhein die Ijssel, der ich jetzt Richtung Doesburg folge. Entlang des Örtchens Giesbeek radele ich auf dem Damm durch den Regen, als ich den Kirchturm der Martinikerk von Doesburg sehe. Freudig fahre ich entlang des Hafens über die Ijsselpromenade und biege in den historischen Kern ein. Das Städtchen, das seit dem 15. Jh. Teil der Hanse war, wirkt wie ein großes Freilichtmuseum. Beinahe jede Häuserfassade schmückt ein Schild des Denkmalschutzes. Die Jahreszahlen an den Fronten reichen hunderte Jahre zurück. Als ich die Kirche des heiligen Martin erreiche beginnt (für mich unerwartet) das Glockenspiel. Die Melodien erfüllen die kleinen Gässchen durch die breite Pferde Kutschen voller Touristen klappernd ziehen. Wer hier mit seinem Handelsschiff anlegte, durfte sich in meinen Augen glücklich schätzen.

Der Hanse-Radweg in Etappen

1. Etappe: Neuss-Wesel (87,7 km)
2. Etappe: Wesel-Kalkar-Emmerich (58,9 km)
3. Etappe: Emmerich-Nijmegen (60,1 km)
4. Etappe: Nijmegen-Arnheim–Doesburg (50,5 km)
5. Etappe: Doesburg-Zutphen-Deventer (53,2 km)
6. Etappe: Deventer-Hattem-Zwolle (52,4 km)
7. Etappe: Zwolle-Hasselt-Kampen (35,4 km)
8. Etappe: Kampen-Elburg-Harderwijk (43,2 km)

 

Merlin Kiesel
Erschienen in der OutdoorWelten Winterausgabe 2021/2022.
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