Es ist 03:40 Uhr, als ich mit Claus und Georg [Name von der Redaktion geändert] aus der klimatisierten Ankunftshalle des Erbil International Airports trete, wo uns eine leuchtend rote „32“ begrüßt. An sich eine schlichte Temperaturanzeige, zieht sie damit um diese Uhrzeit besondere Aufmerksamkeit auf sich. Schnell verschwinden die Ankommenden in irgendwelchen Fahrzeugen. Auch wir werden sofort zu einem Taxi zu geleitet, dann brausen wir auch schon durch die heiße Nacht den Lichtern der Hauptstadt Erbil entgegen. Zu unserem Hotel im christlichen Stadtviertel Ankawa ist es nur eine halbstündige Fahrt. Wir sind angekommen in Irakisch-Kurdistan, der autonomen Region im Norden des Irak.

Text & Bilder von Thorsten Hoyer

Eine der ältesten Stätte der Menschheit 

Sandstürme sorgen für eine surreale Lichtstimmung in Erbil.

Um 12 Uhr mittags treffen wir in der Hotellobby Mohammed, der uns in den nächsten Tagen seine Heimat zeigen und erklären möchte. Mohammed, ich schätze ihn auf Ende zwanzig, ist uns auf Anhieb sympathisch. Er klärt uns auf, dass die Region aktuell unter einer Hitzewelle leide. Temperaturen von über 40° C seien zwar nichts ungewöhnliches, dass sie Anfang Juni aber bereits auf 47° C stiegen, ließe größere Wanderungen nicht zu. Er rät, unsere Touren in den frühen Morgenstunden sowie am späten Nachmittag anzugehen.

Heute werden wir uns aber zunächst etwas akklimatisieren und in das quirlige Zentrum der Zwei-Millonen- Metropole eintauchen. Wahrzeichen Erbils ist die Zitadelle, die mit über 8.000 Jahren eine der ältesten durchgehend bewohnten Siedlungen der Welt ist und seit 2014 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Zu Füßen der Zitadelle schlendern wir durch den Qaysari Bazar, dessen Gänge sich durch historische Gebäude schlängeln. Ein „Indoor“-Bazar, der seit dem 14. Jh. existiert. Durch die Luft ziehen Gerüche von Gewürzen, Kräutern, Leder und Holz. Zwischen feilgebotenem Gebäck, Textilien, Obst und Schmuck gibt es aromatische Tees und frisch zubereitete Speisen aus regionalen Zutaten. Es riecht verführerisch und ich probiere hier und da, aber bei über 40° C ist trinken wichtiger als essen. Gekrönt wird der eindrucksvolle Tag mit einem Konzert traditioneller kurdischer Musik in den uralten Gemäuern der Zitadelle. Da sitzen wir nebeneinander, Claus, Georg und ich, staunen wie Kinder, vollkommen ergriffen von der märchenhaften 1001-Nacht-Atmosphäre. Zufrieden sieht uns Mohammed an, es war seine Willkommensüberraschung für uns.

Unvergessliches „Music Valley“

Inmitten karg erscheinender Landschaften aus Sand und Fels
wirken die grünen Täler von Zoragvan und Isomaran wie wundersame Oasen.

Es ist Freitag, der 03. Juni, als uns Mohammed bereits um kurz nach sechs am Hotel abholt. Der Schritt vor die Hoteltüre fühlt sich wie der in eine Sauna an. Die etwa einstündige Fahrt zum Start unserer ersten Wanderung unterbrechen wir nur kurz, um ein paar Sachen für ein Gipfelfrühstück einzukaufen. Während der Fahrt kriecht mir der Song Dewrano der kurdischen Musiker Kemal und Metin Kahraman ins Langzeitgedächtnis und Mohammed schwärmt uns von dem Tal vor, durch das wir auf den 1.166 m hohen Safin Mountain aufsteigen wollen. Liebevoll bezeichnet er es als „Music Valley“, weil es sich wie Musik anhöre, wenn der Wind schwungvoll durch das enge Tal pfeife und die Laubbäume zum Rauschen bringe.

Mohammed parkt das Auto, wir kontrollieren Wasservorräte und Sonnenschutz und nach wenigen Minuten steigen wir auf einem Pfad bergan. Es braucht nur wenige Schritte bis der Schweiß rinnt; wir gehen langsam, die Wasserflaschen immer griffbereit. Der Pfad ist mäßig steil, technisch nicht schwierig, dennoch heißt es bei den vielen Steinen und Wurzeln aufpassen. Nach etwa einer Stunde stehen die Bäume dichter und spenden wohltuenden Schatten. Pause oder langsam weiter gehen? Allesamt entscheiden wir uns für letzteres. Kurz darauf – Mohammed und Claus sind ein Stück voraus – bleibt Georg vor mir stehen und gerät ins Wanken. Ich mache einen Sprung und kann ihn gerade noch auffangen. Bewusstlos sackt Georg in meinen Armen zusammen. „MOHAMMED!! CLAUS!!“ fährt es augenblicklich aus mir heraus. Sofort versuchen wir Georg zu reanimieren. Weiter, immer weiter. Zu unserem Entsetzen müssen wir jedoch feststellen, dass unsere Bemühungen erfolglos waren.

Sehr spät am Abend sind Claus und ich endlich wieder im Hotel und starren von der obersten Etage schweigend auf die Straßen und Häuser der Stadt. Dass sie sich mangels Strom immer wieder in Dunkelheit verlieren, passt zu unserer völlig unfassbaren Situation.

Bleiben oder vorzeitig Abreisen?

Am nächsten Morgen – wir sitzen mit Mohammed zusammen und beratschlagen, was zu tun ist – erfahren wir das Mitgefühl der Hotelmitarbeiter. Sicher ist es ihrer großen Anteilnahme zu verdanken, dass wir mit etwas Zuversicht in den Tag starten. Mit Blick auf den leeren Sitz wissen wir aber nicht, ob sich das richtig oder falsch anfühlt.

In Amediya scheinen die Häuser eins mit den Felsen zu sein.

Wir sind auf dem Weg in die Kleinstadt Rawanduz, die spektakulär am Rand über dem tief eingeschnittenen, gleichnamigen Canyon liegt. Als wir diesen erreichen, machen wir den ersten Stopp und sind vom Anblick der engen Schlucht mit den hohen Felswänden und des Flusses Rawanduz begeistert. Nach einer kleinen Wanderung setzen wir den Weg in die Stadt fort, wo wir bei einer befreundeten Familie Mohammeds übernachten werden. Nach einem kräftigen Anstieg sind wir im rund 900 m hoch gelegenen Rawanduz angekommen und überwältigt von der atemberaubenden Aussicht in den Canyon. Mohammeds Lockung mit „the best cool, refreshing and relaxing place“ zeigt sich in Form eines natürlichen Beckens, in dem sich das Wasser eines Gebirgsbaches sammelt. Selbst für mich als ausgesprochenen Bademuffel ist das Eintauchen ins kühle Nass echter Genuss.

Während Mohammed kräftigen schwarzen Tee zubereitet und selbstgebackene Plätzchen seiner Mutter auspackt, erreicht mich eine Nachricht von Georgs jüngster Tochter. Wir verabreden uns zu einem Videochat am Abend. Für das, was nun alles durch meinen Kopf rast, was an Gefühlen auf mich einstürzt, dafür kann ich nicht die passenden Worte finden. Nicht anders ergeht es Claus und Mohammed – im kalten Wasser sitzend, starren wir mit leeren Blicken vor uns hin. Das Gefühl der Hilflosigkeit macht uns sprachlos.

Flirrende Hitze und grüne Täler

Stellte ich mir die Frage, die Reise fortzusetzen oder abzubrechen, fand sie ihre entscheidende Antwort mit einem Versprechen Georgs Familie gegenüber: Wir können am besten für sie da sein, wenn wir hier sind. Das Gespräch mit der Familie hat geschmerzt und so wird die herzliche Gastfreundschaft von Mohammeds Freunden noch wertvoller. Erst nachmittags brechen wir zur Weiterreise in Richtung Bradost-Gebirge auf. Die flirrende Hitze lässt größere schattenlose Wanderungen nicht zu, den Aufstieg zu einem Aussichtspunkt über dem Great Zab River gehen wir aber an. Das sorgt zwar für ungehemmten Schweißfluss, aber die Aussicht auf den Großen Zab und die umgebenden Berge ist aller Mühen wert. Ruhig und gelassen fließt der im Südosten der Türkei und bei Mosul in den Tigris mündete Fluss durch sein weites Tal. Dass das Trinkwasser in den Flaschen schon nach kurzer Zeit warm ist, kommentiert Mohammed augenzwinkerndem mit dem Hinweis, warme Getränke seien bei der Hitze sowieso viel besser als kalte.

Will man das einzigartige Tal von Gali Sherana erleben, muss man sich auf einen mitunter beschwerlichen Weg einlassen. Aber das ist es wert!

Als krasser Gegensatz zeigt sich die anschließende Wanderung im nahgelegenen Zoragvan-Tal. Begrenzt wird das Tal von hohen Felswänden, zwischen denen sich ein größerer Bach um markant gewachsene Bäume schlängelt. Das dichte Blätterdach über uns sorgt für wohltuenden Schatten und erträglichere Temperaturen. Als sich der Fluss staut und ein kleines Becken formt, packt Mohammed den Teekessel aus und serviert kurz darauf seinen köstlichen schwarzen Tee. Leider ist nur von dem vortrefflichen Gebäck seiner Mutter nichts mehr übrig.

Dass wir das Zoragvan-Tal mit seiner mystisch-märchenhaften Stimmung genossen haben, war wohl ganz offensichtlich. Tags darauf erzählt uns Mohammed vom Isomaran-Tal, das dem gestrigen ähnlich sei. Nur sei das Flüsschen etwas tiefer, dazu gäbe es Wasserfälle und prächtige Libellen. Er muss sich gar nicht weiter anstrengen – wir sind dabei! Den ersten schönen Wasserfall gibt es dann auch gleich beim Einstieg in das enge Tal. Mit einem allmählich felsiger werdenden Pfad tauchen wir immer tiefer in die traumhafte Landschaft aus Wasser und Wald ein. Hier ist die Luft fast schon „kühl“, würzig und durchdrungen vom Zirpen der Zikaden. Während sich die beiden dem erfrischenden Nass hingeben, gilt meine Aufmerksamkeit einer Krabbe, die ihren Spaziergang unvorsichtiger Weise direkt vor meinen Füßen unterbricht. Ich halte ganz still und schon bin ich umgeben von unzähligen Prachtlibellen, die mit ihrem kräftig-schillernden Blau einen scharfen Kontrast zu den sattgrünen Blättern der Bäume bilden. Erst jetzt merke ich, dass die Krabbe mitnichten ihren Spaziergang unterbrach, vielmehr versperre ich ihr den Zugang in ihre Erdhöhle.

An besonderen Orten

Das assyrische Kloster St. Odisho.

Auf unserer Weiterfahrt Richtung Nordwesten passieren wir Kontrollpunkte der Peschmerga, den Streitkräften der autonomen Region Irakisch-Kurdistans, die durch ihren Kampf gegen die IS-Terrormiliz über die Grenzen Kurdistans bekannt wurden. Mit dem Erreichen des Gara-Gebirges befinden wir uns nun im Grenzgebiet zur Türkei. Mohammed steuert seinen Jeep durch die Sulav-Schlucht, um dann einem schmalen Sträßchen kräftig bergan bis zum assyrischen Kloster St. Odisho in 1.186 m Höhe zu folgen. Bereits seit dem vierten Jahrhundert soll sich an diesem Ort ein Kloster befinden. In der jüngsten Geschichte wurde das Kloster im Jahr 1963 zerstört und 1985 wieder aufgebaut. Nur zwei Jahre später wurde es unter Saddam Hussein erneut völlig zerstört. Das heutige Kloster stammt aus dem Jahr 1995 und gilt als bedeutender Wallfahrtsort und als Herzstück der assyrischen Gläubigen Kurdistans. Seit mehr als 30 Jahren hält Pater Elias hier Gottesdienst und kümmert sich um den heiligen Ort. Erfreut und auch ein bisschen stolz erklärt uns der 87-jährige, der unter Hussein verfolgt und inhaftiert wurde, dass Menschen verschiedenen Glaubens und Ethnien aus ganz Kurdistan, als auch des Iraks das Kloster besuchen. Claus und ich zünden eine Kerze an und sind in Gedanken bei Georg und seiner Familie. Als gläubiger Christ setzte sich Georg in seinem Heimatort schon seit vielen Jahren für geflüchtete Menschen ein, auch aus dem Irak. Wir sind uns sicher, dass ihm dieser besondere Ort sehr gefallen hätte.

Nur vier Kilometer trennen uns von der antiken Stadt Amediya, deren Geschichte bis 3.000 v. Chr. zurückreicht. Auf unserem Spaziergang statten wir der Großen Moschee einen Besuch ab, deren 30 m hohes Minarett weithin sichtbares Wahrzeichen des Bergstädtchens ist. Die ältesten Teile der Moschee stammen aus dem 12. Jh., das Minarett ist etwa 500 Jahre alt. Wie Georg, Claus und ich während der Anreise nach Erbil feststellten, hatten wir als Kinder alle die Abenteuer um Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar in Karl Mays Buch „Durchs wilde Kurdistan“ gelesen. Zu einem großen Teil spielten sich die Geschichten hier in Amediya ab. Dass ich mal durch die Gassen streifen würde, durch die einst Kara Ben Nemsi spazierte, hätte ich damals wohl kaum für möglich gehalten.

Zurück am Safin Mountain

Die Rückreise nach Erbil unterbrechen wir für eine Wanderung in Gali Sherana, einem paradiesisch anmutenden Fleckchen Erde. Vom Parkplatz am Ende einer schmalen Straße folgen wir einem Pfad in ein enges felsiges Tal. Sind wir mit dem Fluss zunächst noch auf gleicher Höhe, steigen wir bald stetig bergan, wobei der Pfad zunehmend schmaler wird und als solcher mitunter nicht mehr erkennbar ist. Abenteuerlich wird es, wenn es direkt entlang von Felskanten geht und das Wasser tief unter uns in schönsten türkisfarben leuchtet. Kommen Felsüberhänge dazu, geht es auch mal nur auf allen vieren vorwärts. Wenn diese Schlüsselstellen geschafft sind, findet man sich in einer überwältigenden Landschaft schroffer Felsen, glasklarem Wassers und sattgrüner Vegetation wieder. Niemals hätte ich so etwas Wundervolles vermutet.

Nach einem Abstecher zum Mosul-Stausee, der durch das Wasser des Tigris gespeist wird, erreichen wir wieder unser Hotel in Erbil. Damit sind wir einen Tag früher als geplant am Ausgangspunkt unserer Reise angekommen. Bevor wir nach Deutschland abreisen, wollen wir zurück zum Safin Mountain, mit einem Kreuz und unseren Gebeten. Christlich, muslimisch – ich denke an die Worte von Pater Elias und glaube, dass es ein würdiger Abschied ist.

Info: Wanderreisen nach Irakisch- Kurdistan hat der spezialisierte Reiseveranstalter Alsharq (Berlin) im Angebot: www.alsharq-reise.de


 

Erschienen in der OutdoorWelten Sommerausgabe 2023