von Nina Rühlig
Vom Atlantik ans Mittelmeer
Gare d´Hendaye, 28.06.2022: Ich steige aus dem Zug und laufe zur Strandpromenade. Hier beginnt der GR 10, der sich 930 Kilometer vom Atlantik bis ans Mittelmeer zieht, stets auf der französischen Seite der Pyrenäen. Hier ziehe ich los auf eine Wanderung, die länger sein wird als alles, was ich bisher zu Fuß zurückgelegt habe. Durch eine Gegend, die ich nicht kenne, und ohne zu wissen, wann ich wieder nach Hause fahre. Dabei werde ich 55.000 Höhenmeter aufwärts laufen und genauso viele abwärts.
Mitgenommen habe ich nur meinen Rucksack, der alles beinhaltet, was ich in den nächsten Wochen brauchen werde: Zelt, Schlafsack, Kocher, Wanderführer, ein paar Klamotten, ein Erste-Hilfe-Set, meine Regenjacke und Wanderstöcke, Essen für ein paar Tage und Gaskartuschen. Viel ist es nicht. Die fast zehn Kilo auf dem Rücken spüre ich trotzdem.
Nach vielen Wochen der Vorfreude und Planung suche ich die Wegmarkierung und gehe los.
Eine Fülle an Grün
Die ersten Tage laufe ich durch das Baskenland. Die Beschilderung des GR 10 ist gut, ich schließe erste Wanderbekanntschaften und es wird täglich sonniger und wärmer. Oft ist in diesen Tagen sicht- oder hörbar, dass im Baskenland Wert auf Herkunft und Tradition gelegt wird. Die Menschen in den Lokalen sprechen baskisch. Die Straßen- und Wanderschilder sind zweisprachig und beim Bau und der Sanierung von Häusern wird der ursprüngliche Baustil erhalten.
Das satte Grün der Landschaft beeindruckt mich durch seine Fülle; die vielen Kühe, Schafe und Wildpferde veranlassen mich immer wieder zum Anhalten, um zu schauen und zu fotografieren. Über mir kreisen Geier, die sich von den toten Tieren ernähren, die vereinzelt am Wegrand liegen.
Gleich in der zweiten Nacht bekomme ich einen Vorgeschmack auf das, was zelten in den Pyrenäen ist: einfach und schön. Ich baue mein Zelt neben einer Kapelle auf, es gibt fließendes Wasser und abends grasen Schafe rund um mein Zelt. Der Sonnenuntergang macht die Zeltromantik perfekt.
Nach wenigen Tagen wartet dann auch schon die erste körperliche Herausforderung auf mich: die Crêtes d’Iparla. Steil geht es nach oben und die Sonne brennt. Immer wieder muss ich pausieren, ich fühle mich kraftlos. Am Abend bin ich so müde, dass ich im Liegen vor dem Zelt esse. Deutlich merke ich jetzt, dass mich meine Corona-Erkrankung kurz vor dem Start nach Frankreich mehr geschwächt hat als erwartet. Schon nach fünf Tagen lege ich daher in Saint Jean-Pied-de-Port einen ersten Ruhetag ein. Hier bekomme ich eine Ahnung davon, wie viele Wanderinnen und Wanderer der Jakobsweg anzieht und bin froh, auf dem GR 10 weiterziehen zu können. So langsam laufe ich mich ein, vorbei an den Chalets d´Irati, über die Paserelle d´Holzarte und den Pas de l´Osque. Mal alleine, mal in tierischer oder menschlicher Gesellschaft, geht es weiter über Pässe und durch Täler und immer mit einer beeindruckenden Bergkulisse. Das Unterwegssein macht Spaß, und wenn nach einem schönen Wandertag das Zelt steht, die Wasserflasche gefüllt und ein Abendessen erreichbar ist, ist das Glück perfekt.
Fast immer scheint die Sonne und es ist tagsüber so warm, dass ich manchmal morgens noch im Dunkeln das Zelt abbaue und früh loslaufe. Am Tag vor dem französischen Nationalfeiertag erreiche ich Cauterets, mein erstes Zwischenziel. 280 Kilometer bin ich schon gelaufen. Ab hier geht es weiter in die Zentralpyrenäen und über den höchsten Punkt des GR 10. Zunächst aber nehme ich mir für zwei Nächte ein Zimmer, ruhe mich aus, lese und schreibe. Für das große Feuerwerk am Abend des 14. Juli bin ich zu müde. Immer wieder in diesen ersten Tagen und Wochen frage ich mich, ob ich wirklich bis ans Mittelmeer laufen kann, ob diese körperliche Herausforderung für mich nicht zu hoch ist.
Doch der Ruhetag tut gut. Am nächsten Tag stehe ich nach einem Anstieg von fast 2.000 Höhenmetern auf der Hourquette d´Ossoue auf 2.734 Metern und fühle mich fit. Fit und frei. Es ist ein Tag der Superlative: Ich laufe über die höchste Stelle auf dem GR 10, zelte am höchstgelegenen Refuge in den französischen Pyrenäen, dem Refuge de Bayssellance, und komme am Vignemal-Gletscher vorbei, dem einzigen, der direkt am GR 10 liegt.
Das Zelt steht schnell, Auf- und Abbau sind zur Routine geworden. Hier im Nationalpark darf ich außerhalb von offiziellen Campingplätzen nur von 19.00 Uhr bis 7.00 Uhr zelten. Ansonsten gibt es dafür auf der französischen Seite der Pyrenäen fast nirgends Regeln. Ich stehe mit meinem Zelt auf Hügeln, an Seen, neben Hütten oder mitten im Dorf und genieße je nach Platz die Einsamkeit oder das Zusammensein mit Anderen.
Freiheit pur
Irgendwann in diesen Tagen merke ich, dass es gar nicht mehr das Mittelmeer ist, das ich als Ziel sehe. Es ist das Unterwegs sein, das Laufen in der Natur, es sind die Nächte im Zelt und die Kontakte mit den wunderbaren Menschen, die ich hier treffe. Die Reduktion auf „wenig“ ist immer weniger spürbar. Es fühlt sich nach viel an, was ich habe – es ist alles da, was ich brauche.
Trotzdem freue ich mich, als ich bei einer zweitägigen Pause auf einem Campingplatz in Luz-Saint-Saveur nach fast drei Wochen das erste Mal meine Sachen so richtig waschen kann. Auch das fühlt sich sehr gut an.
Vollkommen erholt und vor allem sauber geht es nach dieser Pause weiter, hoch in die Berge, vorbei an wunderschönen Seen und durch kleine Ortschaften. Immer besser fühlt sich das Laufen an, immer normaler diese Form von Unterwegssein. Nie frage ich mich, warum ich das tue, nie ist es langweilig. Die Ruhe, die Natur und das Panorama sind immer wieder überwältigend. Ich plane meist von Tag zu Tag und oft weiß ich selbst am Nachmittag noch nicht, wo das Zelt am Abend stehen wird. Es ist Freiheit pur.
Dreieinhalb Wochen nach dem Start in Hendaye erreiche ich Bagnères-de-Luchon. Hier ist die Hälfte der Strecke gelaufen und ich komme in die Ariège. Dieser Abschnitt der Pyrenäen beginnt – einem Einheimischen zu Folge – dort, wo die Esel sich weigern, weiterzugehen, weil es zu steil wird. Mein Respekt vor den kommenden 260 Kilometern ist nach zahlreichen Erzählungen über die Gegend groß. Nicht nur steil, sondern auch trocken, rau und unwirtlich soll es hier sein. Zudem beginnt jetzt die Gegend, in der die Bären leben. Immer wieder werde ich auf Infotafeln und Hinweise aufmerksam, die über das richtige Verhalten im Umgang mit Bären aufklären. Auch in Gesprächen wird der Bär immer präsenter. So wirklich besorgt scheint hier aber niemand zu sein.
Ich verbringe die Nächte meist im Zelt und ab und zu in Schutzhütten. Und in einer dieser kleinen Schutzhütten merke ich dann, wie mich die vielen Informationen und Gespräche über Bären im Unterbewusstsein doch beeinflussen. Als ich nachts vor meiner Hütte - in der ich alleine übernachte – laute Geräusche höre, bekomme ich Angst. Ich habe die Tür zu, gehe davon aus, dass ein Bär nicht zum Fenster reinkommt und versuche, weiterzuschlafen. Raus traue ich mich nicht. Die Spurensuche am Morgen bleibt erfolglos. Ob es tatsächlich ein Bär war, werde ich nie erfahren.
Die Tage in der Ariège sind anstrengend, es ist heiß und die Gegend wirklich steil. Die Dörfer sind klein und die Einkaufsmöglichkeiten dünn gesät. In manchen Orten wohnen nur noch drei oder vier Menschen und ich komme an zahlreichen verfallenen Häusern vorbei. Aber auch an Orten, die durch den Wandertourismus wieder zum Leben erweckt wurden. Mich beeindruckt die Gegend. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass die Zeit hier stehen geblieben ist. Alles läuft ein wenig langsamer, entspannter und ursprünglicher.
Nach 14 Tagen in der Ariège komme ich in Mérens-les-Vals an und habe einen weiteren Abschnitt wunderbar geschafft. Körperlich fit, voll motiviert und mit immer mehr Freude am Laufen und Unterwegssein, steige ich ohne einen weiteren Ruhetag in den letzten Abschnitt der Pyrenäen ein, die Pyrénées-Orientales. Nach so vielen Wochen und Kilometern stellt sich die Frage, ob ich den GR 10 schaffe, nicht mehr. Sie ist auch nicht mehr wichtig.
Gigantisches Wolkenmeer
Rund 200 Kilometer liegen noch vor mir, ich fühle mich gut und das Laufen fällt mir leicht. Voller Motivation und Energie beschließe ich, noch einen Abstecher auf den Pic du Canigou zu machen, den höchsten Punkt meiner Tour in den Pyrenäen. Das Erklimmen des 2.785 Meter hohen Berges erweist sich als anstrengender und schwieriger als gedacht, da ich mich früh morgens im Dunkeln trotz Stirnlampe verlaufe und eine Weile nach dem richtigen Weg suche. Ein paar unfreiwillige Klettereinlagen später stehe ich dann aber doch noch rechtzeitig zum Sonnenaufgang am Gipfel und genieße den Ausblick auf ein gigantisches Wolkenmeer. Dieser Anblick, der mich seit Wochen begleitet, ist jedes Mal wieder beeindruckend. Einmal mehr nehme ich wahr, was mir diese Reise schenkt.
Und erst hier – auf dem Pic du Canigou kommen auch die Gedanken an das Ende des GR 10 so richtig zurück. Nur noch wenige Etappen habe ich jetzt zu laufen und ich weiß, dass damit dann auch diese besondere Zeit zu Ende geht. Auf einmal geht mir alles zu schnell. An einem wunderschönen Mas – einer Art Hof, in dessen Garten ich gegen eine geringe Gebühr mein Zelt aufbauen darf – beschließe ich daher morgens spontan, einen letzten Ruhetag einzulegen, um das Ankommen etwas hinauszuzögern. Ich schaue mir Bilder der letzten Wochen an, genieße die Zeit in der Hängematte, lese ein wenig und schaue in den Himmel. Eines weiß ich schon jetzt ganz sicher: Die Pyrenäen werden mich so schnell nicht mehr loslassen.
Ankommen ist manchmal schwerer als Loslaufen
Als ich dann weiterziehe, geht alles ganz schnell: Schon drei Tage später esse ich auf dem Pic Neulos das letzte Mal auf dieser Wanderung zu Mittag. Von hier aus habe ich auch das erste Mal freie Sicht aufs Mittelmeer. Gerade mal drei Stunden später und 1.000 Höhenmeter weiter unten stehe ich in Banyuls-sur-mer am Strand.
Nach 49 Tagen unterwegs sein, 31 Nächten im Zelt, ungefähr 930 gewanderten Kilometern und unendlich vielen Höhenmetern bin ich da. Ich stehe wieder am Meer und die Emotionen überschlagen sich: Glück und Zufriedenheit, ein wenig Stolz, Dankbarkeit, Traurigkeit und Wehmut – all das überwältigt mich und ich stelle fest, dass Ankommen manchmal schwerer ist als Loslaufen.
"Wenn Sie den Bären sehen, schließen Sie bitte die Tür!"
Impressionen einer Wanderung durch die Pyrenäen
Ninas Vortrag über ihre siebenwöchige Solowanderung auf dem französischen Weitwanderweg GR 10 von Hendaye im Baskenland bis nach Banyuls-sur-Mer im Süden Frankreichs vermittelt neben Eindrücken zur Landschaft und dem Leben vor Ort auch Infos zur Planung und Vorbereitung einer längeren Wanderung – eine besondere Zeit, die bis heute nachwirkt, Lust macht auf mehr und inspiriert, sich auf den Weg zu machen. Infos und Termine unter www.ninawandert.de.