Text von Thorsten Hoyer

"Hightide" in der Schweiz

Paddeln bringt Farbe ins Spiel © Thorsten Hoyer

Februar 2022: Nach fast acht Stunden Zugfahrt von Erfurt nach Interlaken im Berner Oberland stehe ich am Bahnhof der rund 5.500 Einwohner zählenden „Adventure Capital of Europe“. Selbstbewusst schmückt sich die Gemeinde mit dem selbst gewählten Superlativ; viele Anbieter buhlen hier mit zahlreichen Angeboten um die Aufmerksamkeit von noch mehr Gästen. Wer will, kann mit einem Helikopter abheben und anschließend die Pulverschneehänge mit Skispuren verzieren oder beim Skydiving den direkten Weg ins Tal nehmen. Aber deswegen bin ich nicht hier. Der Brienzersee hat mich gelockt – oder vielmehr die Hightide Kayak School, mit der man in den winterlichen See stechen kann.

Als ich mich an diesem Februarmorgen eben dort am Strandbad einfinde, werde ich nicht nur von der Mitarbeiterin Andrea Neu strahlend begrüßt. Vor mir erstreckt sich ein sonnenbeschienener See, der von Bergen mit weiß leuchtenden Gipfeln eingerahmt ist. Auch wenn noch morgendliche Frische vorherrscht, ein winterlicher Tag ist nicht zu erwarten. Ich lerne unseren Guide Sean kennen, den es aus Australien hierher verschlagen hat. Geduldig zeigt er seinen heutigen Gästen (drei Studentinnen aus Brasilien und Kolumbien, einem Hawaiianer sowie mir Erfurter), wie der obligatorische Trockenanzug angelegt wird.

Paddeln und Berge passen perfekt zusammen © Thorsten Hoyer

Zunächst kommen die Füße in dicke isolierende Socken, die anschließend in die fest mit dem Anzug verbundenen Füßlinge gesteckt werden. Wir stehen in einer Reihe, vor uns Sean, der jeden Handgriff vormacht. Dann wird der einteilige Anzug bis zur Hüfte hochgezogen, um Arme und Kopf unter Drehungen durch die dafür vorgesehenen Öffnungen zu bugsieren. Das Anziehen geht nicht unbedingt zügig vonstatten, gibt aber ein durchaus amüsantes Bild ab. An Handgelenken und Hals sind enge Neoprenabschlüsse angebracht, die verhindern, dass im Fall des Kenterns Wasser in den Anzug läuft. Mit Seans Unterstützung wird aber schließlich jede und jeder eins mit dem ungewohnten Anzug. Der letzte Akt beim Anziehen ist das Schließen eines Reißverschlusses im oberen Bereich des Rückens. Sean schreitet die Reihe ab, fünf Mal macht es „ratsch“. Dann folgt dem Anlegen der Schwimmweste das Ablegen der bunten Kajakflotte.

Für die Erfinder des „Qajaq“, den indigenen Völkern der nördlichen Polargebiete, war das Boot überlebenswichtig. Sie fuhren damit zur Jagd: Es musste schnell und wendig sein. Gebaut wurde es aus einem durch Knochen verstärkten Holzrahmen, der mit Tierfellen bespannt war. Eine Tradition, die sich vor allem bei den Inuit in Grönland bis heute erhalten hat.

Spiegelglatt liegt vor mir der Brienzersee, der zumeist von steilen Berghängen flankiert wird. 14 km in der Länge und fast 3 km an seiner breitesten Stelle erstreckt sich der See in nordöstliche Richtung. Kaum auf dem Wasser, sind es nur wenige Paddelschläge und schon bleibt die übliche Geräuschkulisse zurück an Land. Mit jedem zusätzlichen Paddelschlag entferne ich mich ein Stück mehr vom alltäglichen Lärm und spüre, wie mich Ruhe und Gelassenheit erfassen. Das ist es, was mich beim Kajakfahren immer wieder aufs Neue so sehr fasziniert. Mit ein wenig Erfahrung wird sogar das gleichmäßige Eintauchen des Paddels ins Wasser eine nahezu lautlose Tätigkeit. Die taktmäßigen Bewegungen der Arme, das sanfte Dahingleiten auf dem Wasser, alles in allem ist es ein Perspektivwechsel, der die Sicht auf die Umgebung auf entspannte Weise verändert.

Seit Jahren steigt Thorsten Hoyer regelmäßig ins Kajak © Sean Good

Unterhalb der Burgruine Ringgenberg halte ich inne und lasse mich auf dem klaren türkisfarbenen Wasser treiben. Die Neoprenhandschuhe habe ich längst beiseitegelegt und das Gesicht ausgiebig mit Sonnenschutz versorgt. Sean erzählt mir leidenschaftlich von Kajaktouren bei Nebel und Schneefall und wie sehr er das inzwischen liebe. Zurück am Strandbad schäle ich mich aus dem Anzug und erlöse mich sogleich von der verschwitzten Fleecejacke. Passiert, wenn der Winter im Frühlingsgewand daher kommt. Wie dem auch sei, der Brienzersee ist ein ganz prächtiges Paddelrevier. Auch bei Sonnenschein.

Das Meer - Königsdiziplin des Kajakfahrens 

Als ich zum Thema Winterkajak recherchierte, bekam ich einen Anruf von meiner Kollegin Monika. Sie meinte, dass sie gerade mit Matthias Lux telefoniert hätte, der Kajaktouren auf der Nordsee anbiete. Ohne Umwege über dessen Internetseite rief ich ihn an. Ich wolle mal das Seekajakfahren ausprobieren, also so ‘ne Schnuppertour, meinte ich und fügte hinzu, das aber gerne im Winter. Hatte ich gedacht, mit meinem Winterwunsch Erstaunen bei meinem Gegenüber auszulösen?

Der Autor mit Matthias "Mazzo" Lux (r.)

Das Gegenteil war der Fall. Nur hielt Mazzo (wie er genannt wird) scheinbar nicht so viel von meiner Idee einer „Schnuppertour“. Bildhaft berichtete er mir vom Paddeln zu Leuchttürmen, einem Schiffswrack und in den Sonnenuntergang, vom Biwakieren auf einer Insel und Nächten unter Sternen. Und überhaupt gäbe es nichts Besseres als Salz auf der Haut, Wind im Gesicht und die Weite des Horizonts. Er hatte mich. Ich wollte nichts anderes. Gerade zurück aus der Schweiz, sitze ich im Zug ins ostfriesische Leer, von wo ich mit dem Bus nach Aurich fahre. Im Gepäck: Trockenanzug, Neoprenschuhe, -mütze und -handschuhe, Daunenschlafund Biwaksack sowie gut wärmende Klamotten. Mit Mazzo treffe ich mich am frühen Morgen am Auricher Hafen, wo mir ein intensiver Trainingstag bevorsteht.

Das Wissen um die Tide ist von entscheidender Bedeutung © Matthias Lux

Nach dem Überprüfen meiner Ausrüstung geht es auch schon auf das Wasser und der Unterschied zwischen „normalen“ Kajaks, sogenannten Wanderkajaks, und unseren Seekajaks wird deutlich. Seekajaks sind länger und schmaler und damit zunächst instabiler. Es heißt ja „Länge läuft“, dadurch gewinnen Kajaks an Schnelligkeit und Stabilität. Den Trockenanzug ziehe ich über wärmende Klamotten, zwänge Hände und Kopf durch die neoprenverengten Öffnungen und ziehe den Reißverschluss zu, der bei diesem Trockenanzugmodell quer über die Brust geht. Anschließend wird eine Spritzdecke mit dem Trockenanzug „verbunden“; sie sorgt dafür, dass kein Wasser ins Kajak eindringen kann. Komplettiert wird das Ganze durch die obligatorische Schwimmweste – so mache ich es mir im Kajak gemütlich. Das heißt, Beine anziehen und die Knie beidseitig des Einstiegs in die Kanten drücken. Auf diese Weise wird das Kajak stabilisiert. Jetzt noch die Spritzdecke mit Kraft über den Rand des Einstiegs ziehen und dem Paddelspaß steht nichts mehr im Weg.

Die Sache mit dem Reißverschluss

Schnelligkeit sorgt für Stabilität der langen, schmalen Seekajaks © Matthias Lux

Zunächst drehen wir ein paar lockere Aufwärmrunden im Hafenbecken und paddeln von dort in den Ems-Jade-Kanal. Ein Seekajak fühlt sich anders an als die Kajaks, mit denen ich bislang unterwegs war. Aber schnell gewöhne ich mich daran, mit der Hüfte das Gewicht zu verlagern, um somit im Gleichgewicht zu bleiben. Oder auf diese Weise und unter Zuhilfenahme des Paddels den Kurs zu ändern, Kurven zu fahren oder zu wenden. Es ist erstaunlich, was sich für enge Kurven fahren lassen, wenn man nur schnell genug ist. Was bei Mazzo kinderleicht aussieht, erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Ich übe und wiederhole und ist Mazzo noch nicht ganz einverstanden, brauche ich ans Aufhören gar nicht erst zu denken. Aber genau so muss es sein, Mazzo muss wissen, was ich kann und wo meine Schwächen liegen. Draußen auf dem Meer müssen wir ein Team sein, das sich absolut vertraut. Im Notfall ist das eine Lebensversicherung. 

Nach den technischen Grundlagen steht das Lernen verschiedener Signale auf dem Programm. Eine Zeichensprache, die das Verständigen über größere Distanzen, aber auch bei starkem Wind ermöglicht. Zurück im Hafenbecken erwartet mich der anspruchsvollste Teil des Trainings: das Kentern! Mazzo legt sich nach rechts und kippt kopfüber ins Wasser. Die Wassertemperatur liegt im einstelligen Bereich. Sekunden später taucht er neben dem Kajak auf, lacht vergnügt und ich ahne schon, was er jetzt von mir erwartet: Ich muss da rein. Ich zögere, gucke auf das dunkle Wasser, dann zu Mazzo und wackele zaghaft am Kajak. Mazzos Blick sagt mir, dass das nicht genug sei. Ich drücke den Hintern nach links, eigentlich nur ein bisschen, doch mit einem Schlag hänge ich kopfüber im kalten trüben Wasser. Davon nehme ich sogleich einen gehörigen Schluck. Meine Hand sucht nach dem Griff an der Spritzdecke, um diese mit einem Ruck vom Kajak zu lösen. Erst dann ist es möglich, an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Aber ich bin orientierungslos und das kalte Wasser ist am ganzen Körper zu spüren. Dann werde ich gepackt, nach oben gezogen, wo ich in Mazzos Gesicht blicke. Ich hänge am Kajak und fühle mich doppelt schwer – der Trockenanzug ist vollgelaufen.

Ungewöhnliche Perspektive: die Mellumsandbank mit dem Wrack der Balmoral,
dahinter ein Frachter auf der Außenweser © Thorsten Hoyer

Das Einsteigen in ein schwimmendes Kajak ist an sich schon eine Herausforderung, aber so ist es noch einmal ganz anders. Irgendwann paddele ich wieder und spüre, wie sich Kälte in mir breit macht. Was war passiert? Ich hatte den Reißverschluss zwar zugezogen, dann aber nicht mit festem Druck einrasten lassen. Also drang an der Stelle Wasser ein und flutete den Anzug innerhalb von Sekunden. Nach Abtrocknen und Umziehen geht‘s wieder raus und wir üben das Kentern, das Leeren des vollgelaufenen Kajaks und das Einsteigen noch einige Male. Anschließend schleiche ich auf Eisfüßen ins heimelige Hotel Hochzeitshaus und gebe mich der heißen Dusche hin. Es ist wirklich sehr lange her, dass ich mich mal so platt gefühlt habe.

Zu zweit auf einer Insel 

Am nächsten Vormittag geht’s endlich los. Die Kajaks sind bepackt, die Ausrüstung angelegt und Kompass, GPS und Sprechfunkgeräte überprüft. Bei Flut starten wir unsere Tour um 11 Uhr im Hafen von Horumersiel. Wir schlagen einen nordöstlichen Kurs ein und queren die Außenjade, die mir mit Gegenströmung gehörig zusetzt. Nach rund einer Stunde kräftigen Paddelns liegt die Strömung hinter uns. Zeit, das Paddel längs zu nehmen und mich einen Moment auszuruhen. Das Festland liegt schon überraschend weit zurück, vor mir erstreckt sich mit leichtem Auf und Ab das graue Meer. Und mittendrin zwei einsame Kajaks – ein großartiges, aber auch Respekt einflößendes Gefühl. 

Momente für die Ewigkeit - tausende Sterne in der Nacht, dann die aufgehende Sonne @ Matthias Lux 

Wir halten Kurs und erreichen gegen 13:30 Uhr die nördlichste Spitze der Mellumsandbank, auf der das Wrack des im März 1967 gestrandeten Frachtschiffes Balmoral liegt. Da wir uns im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer befinden, müssen wir die Zeit im Blick behalten, denn Ruhezonen außerhalb gekennzeichneter und in Seekarten verzeichneter Fahrwasser dürfen nur drei Stunden vor bis drei Stunden nach dem örtlichen Tidehochwasser befahren werden. Ich genieße die eindrücklichen Momente dieser beispiellosen Landschaft und folge Mazzo, der Kurs auf die Insel Minsener Oog nimmt.

Nach erfrischender Biwak-Nacht und einem heißen Kaffee geht's wieder raus aufs Meer © Matthias Lux

Mit einsetzender Dämmerung erreichen wir den südlichsten Zipfel der unbewohnten Insel, tragen die Kajaks ein langes Stück über das Watt hinauf auf den Sand, wo wir einen geeigneten Biwakplatz finden. Die Kajaks stellen wir gegen den kalten Wind auf, um dahinter die Schlafplätze herzurichten. Während Mazzo den Campingkocher in Gang setzt, um Tortellini zu kochen, mache ich es mir in meinem kuschelig-warmen Daunenschlafsack gemütlich und blicke stumm in die Nacht, wo ich in der Ferne das Meer rauschen höre. Über mir leuchten zigtausende Sterne, ich spüre die kalte, salzige Luft und empfinde Freiheit und Glück. Während wir uns die Tortellini schmecken lassen, ziehen Sternschnuppen über uns hinweg – nur gut, dass ich nie eine Schnuppertour wollte!

Info 

Kajakfahren in der Schweiz: hightide.ch

Kajakfahren auf der Nordsee: www.kajak-nordsee.de

 Erschienen in der OutdoorWelten Winterausgabe 2022/2023.
Diese und alle weiteren Ausgaben sind im Shop unter www.wandermagazin.de erhältlich.