Ein Gastbeitrag von Anne Kinski,
Leiterin des PRO RETINA Arbeitskreises Sport
und Teilnehmerin
"Don’t try, just do it" – unter diesem Motto stand die Besteigung des 3.667 Meter hohen Großvenedigers, dem höchsten Berg der Venedigergruppe in den Hohen Tauern. Initiiert und durchgeführt hat die Bergbesteigung die Selbsthilfeorganisation PRO RETINA Deutschland e. V.. Sechs sehbehinderte und blinde Wanderinnen und Wanderer und ihre Guides zeigten, was durch Inklusion und die Chance zur Teilhabe möglich ist.
Blindes Vertrauen – Bergsteigen als Tandem
Am ersten Tag galt es, 1.640 Höhenmeter zu überwinden. Zehn Stunden dauerte die erste Etappe des Aufstiegs. Der Weg führte über lockeres Gestein, schlammigen Untergrund, rutschige kleine Hänge, Schneefelder und steile Hänge. Während Sehende wissen, wie sie ihre Füße für einen sicheren Stand setzen müssen, mussten sich die Betroffenen ununterbrochen auf die Ansagen ihrer Begleiter konzentrieren: „Jetzt Stufe, schräge Felsplatte, großer Schritt rechter Fuß, jetzt Stufe, Achtung loser Stein“ und so weiter.
Von den sechs Tandempaaren kannten sich zwei bereits sehr gut. Die anderen vier Guides haben wir vom Guidenetzwerk Deutschland und von Blindjogging Schweiz für die Tour gewinnen können. Somit hatten unsere Guides bereits Begleiterfahrung, aber eher im Bereich Laufbegleitung. Am Abend zuvor haben wir uns persönlich kennengelernt und mögliche Begleittechniken besprochen, denn beim alpinen Wandern kann man, anders als beim Joggen, nicht nebeneinander im Gleichschritt laufen und ist nicht mit einem Führseil verbunden. Tatsächlich hatten alle sechs Tandempaare unterschiedliche Begleittechniken.
Mehrmals überquerte die Gruppe kleine Bäche – teilweise blindvertrauend springend von Stein zu Stein unter Ansage der Guides. Auch die Schneefelder stellten eine äußerst rutschige und nicht ungefährliche Angelegenheit dar. Die Tandems gingen dicht hintereinander. Die seheingeschränkte Person tappte jeweils in die Fußstapfen ihres Guides, um bestmögliche Stabilität zu erlangen. Gewitter und Nebel erschwerten den Aufstieg zusätzlich.
Wie sieht man die Berge mit Seheinschränkung?
Als Initiatorin dieser Veranstaltung ist es für mich eine Herzensangelegenheit, selbst dabei zu sein.
Bis zu meinem 35. Lebensjahr hatte ich keinerlei Seheinschränkung und ich bin in meinem vorherigen Leben schon mehrmals in den Bergen gewesen. Auch heute kann ich, obwohl ich gesetzlich blind bin, die Bergwelt immer noch gut visuell wahrnehmen. Grund ist, dass meine Sehschärfe noch sehr gut ist, aber mein Gesichtsfeld unter 5 Grad beträgt. Ich sehe also immer nur Ausschnitte des Panoramas, kann mir aber durch Augen- und Kopfbewegung einen größeren Eindruck verschaffen. Alle Teilnehmenden mit Seheinschränkung sind nicht von Geburt an blind, sondern verloren im Laufe der Jahre ihr Augenlicht. Drei von uns sind tatsächlich blind, so wie man es sich als sehende Person vorstellt. Zwei davon kamen bis zum Gipfel.
Angeseilt über den Gletscher – Grenzen erkennen
Nach einer Nacht im Defregger Haus auf 2.963 Metern startete die Gruppe am zweiten Tag um 7 Uhr morgens. Gute 700 Höhenmeter waren es bis zum Gipfel und weitere 1.500 Höhenmeter im Abstieg zur Johannishütte. Wir hatten es nun nicht mehr mit Geröll, losem Stein und rutschigem Fels zu tun, dafür mit einer sehr glatten und unterschiedlich festen Gletscheroberfläche: Es ging einen Schritt vor, dann einen halben Schritt rutschend zurück. Auch die dünner werdende Luft machte sich zunehmend bemerkbar, die Kälte drang uns in die Glieder. Zudem galt es, eine Kletterpassage zu bewältigen, an der sich die Wandernden mit Hilfe der Bergführer abseilen mussten. All das kostete enorm viel Zeit und wir waren deutlich langsamer als geplant.
Es blieb nur noch eine Stunde bis zum kritischen Umkehrzeitpunkt und noch 300 Höhenmeter bis zum Gipfel. Es mussten Entscheidungen getroffen werden. Die Wandernden, die es aufgrund ihrer Geschwindigkeit nicht in dieser Zeit bis zum Gipfel schaffen konnten, entschieden sich – im Sinne der Gruppe – umzukehren und den Rückweg zum Defregger Haus auf 2.963 Metern anzutreten. Für die drei Umkehrenden, auch mich, war es eine schwere Entscheidung. Den anderen aber die Möglichkeit zu lassen, es bis zum Gipfelkreuz zu schaffen, machte es für den Moment erträglich.
Völlig euphorisiert und mit reichlich Adrenalin im Blut, trafen wir uns am Abend alle in der Johannishütte wieder. Zusammen ließen wir das Erlebte Revue passieren und verbrachten die letzte Nacht gemeinsam im Bettenlager der Hütte, nachdem wir uns in den vergangenen zwei Tagen so vertraut geworden waren. Ruhig und aneinandergereiht versuchten wir, ein paar Stunden zu schlafen.
Abstieg und Abschied – Wenn scheinbar Unmögliches möglich wird
Am nächsten Morgen sollten die Schlafplätze bis um 8:30 Uhr geräumt sein. Ein Kinderspiel, wir waren ja schon geübt. Heute mussten wir alles nur in den Rucksack stopfen und ab ging’s zu unserem Ausgangspunkt, dem Wanderparkplatz Hinterbichl. Nun kam die Zeit des Abschiednehmens.
Sehend oder seheingeschränkt, wir waren alle gleichermaßen erschöpft. Ob blindvertrauend seinem Guide über Stunden zu folgen oder sich als Guide nicht nur auf das eigene Gehen, sondern auch auf den- oder diejenige, den/die er verantwortungsvoll begleitet, zu konzentrieren, ist enorm anstrengend. Erschöpft, aber überglücklich lagen wir uns im Ziel alle in den Armen. Und alle Guides waren bereit für weitere gemeinsame Abenteuer. Wir fühlten uns unendlich glücklich und vereint, waren stolz, scheinbar Unmögliches möglich gemacht zu machen.
Auch einige Wochen später bin ich mir immer noch sicher: Ich komme wieder. Der Termin für nächstes Jahr steht schon und es gibt schon jetzt weitere Interessenten für die Tour. Das hat mich wirklich überrascht und natürlich sehr gefreut. Was wir beim nächsten Mal anders machen werden, ist, dass wir uns für den Gipfelaufstieg mehr Zeit nehmen. Wir starten morgens im Defregger Haus und übernachten dort auch wieder. Erst am nächsten Tag werden wir den kompletten Abstieg wagen.
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