von Nina Rühlig
Das Wasser an der Quelle sprudelt kalt und klar, die Schutzhütte kommt in Sicht. Meine Freude ist riesig, als ich nach einem langen und anstrengenden Wandertag hier ankomme. Der Ort ist so schön, dass ich unschlüssig bin, ob ich mir Gesellschaft wünsche, um den Abend nicht allein verbringen zu müssen oder lieber für mich bleibe, um die Schönheit und die Stille in Ruhe genießen zu können. Fast bin ich ein wenig enttäuscht, als ich unterhalb von „meiner Hütte“ auf einer Wiese Stimmen höre. Doch die drei Wanderer, die ich aus der Entfernung sehe, bauen ihr Zelt dort auf und ich darf den Abend allein verbringen.
Ich bin unterwegs, um die Vogesen zu Fuß von Nord nach Süd zu durchqueren und einen Wanderführer darüber zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt bin ich schon weit über 300 der insgesamt rund 430 Kilometer gelaufen, die Wissembourg mit Belfort verbinden. Da ich mir die Zeit nicht am Stück nehmen kann, teile ich die Wanderung in drei Gänge ;auf: ein paar Tage im März, ein paar weitere im April und eine Woche im Juli. Dass dieses französische Mittelgebirge ganz im Osten Frankreichs und damit nah an der Grenze zu Deutschland liegt, macht mir die mehrmalige An- und Abreise mit Bus und Bahn leicht.
Faszination Weitwandern: "Das wenige Haben tut mir gut"
Dieses Wandern in drei Abschnitten ist anders, als einen Weg in seiner gesamten Länge zu laufen. Ich brauche jedes Mal etwas Zeit, um anzukommen, den Rhythmus wieder aufzunehmen, einfach nur zu sein. Andererseits gibt es mir die Gelegenheit, die Vogesen zu ganz unterschiedlichen Jahreszeiten zu erleben. Und immer wieder empfinde ich es als Privileg, solche Wanderungen machen und auf diese Art und Weise unterwegs sein zu können.
Mal nehme ich ein Zimmer, mal schlafe ich im Zelt, mal in Schutzhütten. Wie bei jeder Tour genieße ich das reduzierte Leben aus dem Rucksack, in dem ich nur das Nötigste habe. Geringes Gewicht, genügend Komfort, ausreichende Sicherheit – das wenige Haben tut mir gut.
Auch dass die Zeit hier eine andere Bedeutung bekommt, erlebe ich als sehr wohltuend. Ich kann stehenbleiben, um Pflanzen oder Tiere zu beobachten oder mich auf eine Bank setzen und die Aussicht genießen. Ich kann mich auf eine Wiese legen und Pause machen, wann immer ich will. Und ich kann anhalten, um mit den Menschen zu sprechen, die meinen Weg kreuzen.
Gastfreundschaft und Herzlichkeit: „Das Wandern lebt auch von den Menschen“
So oft habe ich das Gefühl, gerade die Begegnungen machen mein Unterwegssein zu etwas Besonderem. Immer wieder bin ich glücklich und dankbar darüber, dass es diese gibt. Die Erinnerungen daran sind etwas, das bleibt. Zum Beispiel, wie ich mich im einzigen Hotel des Orts einbuchen will und dessen Restaurant gerade an diesem Tag geschlossen ist. Ich überlege weiterzuziehen, da ich nach dem langen Wandertag Hunger und Lust auf gute französische Küche habe. Da bietet mir der Wirt, der weder meinen Namen kennt noch meinen Ausweis sehen will, kurzerhand sein Auto für den Abend an. Eine Stunde später stehe ich vor einem alten silbernen Renault und fahre in einen schönen Landgasthof. Wie so oft berühren mich das Vertrauen und die Offenheit der Menschen, die ich treffe.
Auch den Tag, an dem ich in einem eigentlich noch geschlossenen Restaurant stoppe, um die Öffnungszeiten für den Wanderführer zu erfragen, vergesse ich so schnell nicht. Das Angebot des Wirts, beim Reden kurz gemeinsam einen Kaffee zu trinken, finde ich gut. Weil der Wirt noch zwei Freunde dahat und die drei neugierig sind, was ich hier tue, setze ich mich natürlich mit an den Tisch. Wir reden über meine Wanderung, über Sprachen und Essen und Trinken. Trotz aller Sprachbarrieren versuchen wir uns zudem an der Politik auf den beiden Seiten der Grenze. Und auch wenn wir nicht überall der gleichen Meinung sind, ist der Vormittag doch sehr bereichernd und oft amüsant. Das einzig große Unverständnis, das ich hervorrufe, ist meine Weigerung, bereits am Vormittag einen Aperitif zu trinken. Erst rund zwei Stunden später als gedacht, nehme ich meinen Rucksack und ziehe weiter. Ich schätze es sehr, mir auch solche Zeiten nehmen zu können.
Inmitten der Natur: "Eine faszinierende Vielseitigkeit umgibt mich"
Die Vogesen wirken auf mich oft ursprünglich, wild und zumeist wunderbar still. Auf überwiegend kleinen Pfaden durchstreife ich Wälder und Weinberge, Weiden und Wiesen, Pässe und Gipfel. Immer wieder komme ich auch durch kleinere und größere Ortschaften.
Diese ersten Tage dieser Durchquerung sind geprägt durch dichte Wälder. Ich laufe an zahlreichen Ruinen, Schlössern und Burgen vorbei und sitze auf und neben beeindruckenden Sandsteinfelsen. Hier ist alles noch recht niedrig, die Steigungen meist entspannt und die Höhenmeter, die ich zu überwinden habe, halten sich in Grenzen. Kurz vor Niederbronn-les-Bains komme ich an den Großen Wintersberg, der mit seinen 581 Metern ü. M. der höchste Punkt der Nordvogesen ist.
Im kleinen Ort Lichtenberg bin ich am Ende meiner ersten mehrtägigen Etappe angelangt. Nur wenige Wochen später starte ich hier den zweiten Teil meiner Tour. Auch auf diesem Abschnitt bin ich zunächst von viel Wald umgeben. Die Wege sind schön zu laufen und es ist selten viel los. Ich durchquere Saverne, einen der wenigen größeren Orte entlang des Weges, laufe an den Wasserfällen von Nideck vorbei und steige hinauf zum Rocher de Mutzig. Das erste Mal auf dieser Tour bin ich hier auf über 1.000 Metern. Kurz danach stehe ich am Donon, dem heiligen Berg der Vogesen, auf dessen Gipfel ein imposanter Tempel steht. Bei gutem Wetter soll die Sicht von hier oben beeindruckend sein.
Gut gelaunt ziehe ich weiter, durch Wälder, über Pässe, Gipfel und Hochebenen und komme schließlich vorbei am Kloster des Mt. Saint Odile (Odilienberg). Hier ist die Ruhe der letzten Tage dann kurzfristig unterbrochen. Auch an der Haut Koenigsbourg, einer großen und gut erhaltenen mittelalterlichen Burg, ist viel los und trotz aller Schönheit dieser Gebäude freue ich mich doch jedes Mal, wenn es wieder ruhiger wird.
So langsam ändert sich die Landschaft – immer öfter sehe ich nun auch Reben. Spätestens in Ribeauvillé bin ich dann in einem der für das Elsass so typischen Weindörfer gelandet. Hier endet mein zweiter und beginnt drei Monate später mein dritter und letzter Abschnitt dieser Tour, der mich in den Süden der Vogesen, die Hochvogesen, führen wird. Ein wahres Meer an Weite und Aussicht empfängt mich hier. Ich gehe vorbei an dunklen Seen und beeindruckenden Felsen und überschreite mit dem Tanet, dem Hohneck und dem Grand Ballon einige der höchsten Vogesengipfel. Was mich landschaftlich total fasziniert, sind die Hautes-Chaumes, die Hochweiden, die die Gegend rund um den Gazon du Faing – ganz in der Nähe der Seen Lac Blanc und Lac Noir – prägen. Vor allem an solchen Stellen spüre ich die Weite, die Freiheit, die mir immer so wichtig ist. So wie hier an meiner Hütte.
Melkermenü und Heidelbeerkuchen: "In den Vogesen zu essen, ist für mich Genuss pur"
Die Besonderheiten dieses Naturraums zeigen sich aber nicht nur in den Schutzgebieten. Vor allem in den Südvogesen spielt auch die Weidewirtschaft eine große Rolle. Immer wieder begegne ich Kühen, allen voran dem „Vogesenrind“. Diese alte Rinderrasse mit ihrer spannenden schwarzweißen Zeichnung ist bestens an ein Leben an steilen Hängen, auf kargen Wiesen und an das teils unwirtliche Wetter angepasst.
Das Vogesenrind dient neben der Beweidung und somit Offenhaltung der Landschaft auch zur Versorgung der Region mit Milch und Fleisch. In diesen Genuss komme ich immer wieder in den für die Gegend typischen Berggasthöfen, den Fermes Auberges. Wer seinen Betrieb so nennen will, muss dazu bestimmte Anforderungen wie zum Beispiel das Angebot überwiegend eigener Produkte erfüllen. Lokaler essen geht also kaum. Üppiger wahrscheinlich auch nicht. Fast schon berühmt–berüchtigt ist das klassische Melkermenü (Menu marcaire), das im Allgemeinen aus einer Vorspeise, dem Hauptgang mit Fleisch und Roïgabrageldi (typisch elsässische Kartoffelbeilage) sowie Käse und/oder Nachtisch besteht. Danach weiterzuwandern, ist aufgrund der Menge allerdings nahezu unmöglich. So entscheide ich mich tagsüber dann manchmal auch nur für einen Heidelbeerkuchen.
Eine wiederkehrende Erkenntnis: „Eine Wanderung ist mehr als einen Fuß vor den anderen zu setzen“
Immer wieder begeistert und fasziniert mich, was ich von meinen Touren alles mitnehme, wie viele Aspekte einer Region sich mir beim Wandern erschließen und wie mich das bereichert. Ich muss nur genau hinschauen und hinhören. Dann merke ich, wie ich in die Gegend eintauche und das Wandern mehr wird als ein reines Laufen. Es wird zu einer Bewegung in einer Kultur, in einer Geschichte, in einer Sprache. Ich merke, wie das Unterwegssein Menschen zusammenbringt und für Verständigung und Verständnis sorgt. Aber irgendwann neigt sich auch diese Tour dem Ende zu.
Obwohl es mir schwerfällt, verlasse ich den schönen Platz vor meiner Hütte und laufe weiter. Noch einmal überschreite ich einen der höchsten Vogesenberge – dieses Mal den Ballon d´Alsace. In Belfort, dem offiziellen Ende der Vogesendurchquerung, trinke ich auf dem Marktplatz einen Kaffee, nehme kurz danach den Zug nach Hause und der Alltag hat mich wieder. Behalten werde ich die Erinnerung an eine wunderschöne Zeit und die Dankbarkeit, so etwas erleben zu dürfen.
Vogesendurchquerung: Fakten zur Tour
Die Vogesendurchquerung auf den französischen Weitwanderwegen GR 53 und GR 5 von Wissembourg nach Belfort ist rund 430 km und 19-22 Etappen lang. Die An- und Abreise ist gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu machen. Der höchste Punkt der Tour ist auch gleichzeitig der höchste Berg der Vogesen: der Grand Ballon mit 1.424 Metern über dem Meeresspiegel.
Als Wanderzeit bieten sich die Monate Juni, Juli, September und Oktober am besten an. Von November bis Mai sollte genau nach Wetter, Schneehöhen und Öffnungszeiten von Unterkünften geschaut werden. Der August ist Hauptreisezeit in Frankreich und zudem oft sehr warm. Daher bietet sich auch dieser Monat eher weniger an.
Weitere Infos: www.vogesenmassiv.de
Ausrüstung und Voraussetzungen
Die Vogesen sind ein relativ raues Mittelgebirge. Warme, wind- und regendichte Kleidung sollte daher zu jeder Jahreszeit dabei sein. Zu empfehlen sind zudem feste Schuhe, die am besten über die Knöchel gehen. Wer in Unterkünften mit Mehrbettzimmern schlafen will, sollte an einen Hüttenschlafsack denken.
Wer die gesamte Durchquerung laufen will, muss auf jeden Fall trittsicher und schwindelfrei sein. Eine gute Grundkondition von Vorteil. Der Weg ist gut markiert (rotes Rechteck). Die Mitnahme einer Karte, eines Wanderführers und des GPS-Tracks auf dem Handy zur offline-Nutzung empfiehlt sich trotzdem.
Geschichtliches: Erster und Zweiter Weltkrieg
Auf der Tour kommen Wandernde an zahlreichen Zeugnissen der deutsch-französischen Geschichte vorbei. Viele Schützengräben, Bunker und Friedhöfe erinnern an den Ersten Weltkrieg. So zum Beispiel der Berg Tête des Faux, über dessen Gipfel die Frontlinie verlief oder der Hartmannswillerkopf, der im ersten Weltkrieg Schauplatz erbitterter Schlachten war. Hierüber kann man sich im „Historial“, einer Gedenkstätte mit Museum, informieren. Auch die den meisten wohl lediglich als schöne Höhenstraße bekannte Route des Crêtes ist ein Relikt aus dem ersten Weltkrieg. Diese wurde gebaut, um die Versorgung der französischen Armee sicherstellen zu können.
An die Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnert das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, in dem rund 3.000 Menschen umgekommen sind. Heute kann hier neben dem Gelände ein Mahnmal sowie das „Centre européen du résistant déporté“ (Europäisches Zentrum für deportierte Widerstandskämpfer) besichtigt werden.
Über die Autorin
Nina Rühlig ist Autorin des Wanderführers „Portugal: Fischerweg“, hält Vorträge über ihre Wanderreisen und gibt Seminare zu den Themen Ausrüstung, Organisation und Vorbereitung von Mehrtagestouren. Über ihre Fernwandererfahrungen berichtete sie unter anderem in der SWR-Sendung „Expedition in die Heimat“.
Im Frühjahr 2025 wird ihr zweiter Wanderführer "Frankreich: GR 53 / GR 5 – Durchquerung der Vogesen“ im Conrad Stein Verlag erscheinen, inklusive genauer Etappenbeschreibungen mit Karten, Höhenprofilen und GPS-Tracks zum Download sowie zahlreicher Tipps zu Unterkünften, dem kulinarischen Angebot und außerdem Wissenswertem von A-Z.
www.ninawandert.de