Während im Süden der Varangerhalbinsel noch Wäldchen und Kartoffeln gedeihen, ist das nördliche Ende steinig karg und fast vegetationslos. Bei der meiner Radtour in diese Sackgasse begegne ich bunten Papageitauchern, einem einsamen Baum und fühle mich viel mehr "am Ende der Welt" angekommen, als am Touristenhotspot Nordkap. 

von Reinhard Pantke

 

Auf den knapp 200 abwechslungsreichen Kilometern durch diesen eigenwilligen Landstrich sieht man einen Querschnitt verschiedener Landschafts- und Vegetationszonen. Der „nächste Nachbar“ in Richung Osten ist Russland.

Von Tana Bru zum Ende der Welt

Nachdem ich auf meiner Reise zum Nordkap bereits über 1.500 km durch Finnland geradelt bin, freue ich ich mich, an der Mündung des Tana Flusses das Eismeer zu erreichen. Der Wettergott meint es besonders gut, bei fast 20 Grad radle ich mit Rückenwind beschwingt am offenen Meer des Varangerfjords entlang.

Pinker Blütenteppich zwischen vereinzelten kleinen Bäumen.
Ein Blütenteppich aus Weidenrösschen überzieht den Boden der kleinen Wäldchen.

Vielerorts überziehen dichte Teppiche schmalblättriger Weidenröschen die Landschaft und entlang der Straßen lässt die Blumenpracht in den kurzen Sommermonaten vergessen, dass man sich über 500 km nördlich des Polarkreises befindet. In märchenhaften, verwunschenen Birkenwäldchen strahlen Blumenteppiche um die Wette. Vorbei an kleinen, verschlafenen Fischerdörfern und langen Stränden geht es nordwärts.

Vadsø ist das Verwaltungszentrum der Finnmark, das mit 1,5  Einwohnern pro Qudratkilometer der am dünnsten besiedelte Bezirk Norwegens ist. Viele Einwohner sind im 19. Jahrhundert aus Finnland eingewandert und mancherorts wird noch heute Finnisch gesprochen und in den Schulen gelehrt. In den gepflegten Vorgärten sehe ich kleine Kartoffelfelder, in früheren Zeiten entschied die sogenannte Kartoffelgrenze über das Überleben der Menschen.

Auf der kleinen vorgelagerten Insel Vadsøya, die man über eine Brücke erreicht, liegen nicht nur ein Hotel und der Hurtigrutenanleger, es reckt sich auch ein langsam verrostender Ankermast in die Höhe. An seinem Ende hingen früher die Luftschiffe von Amundsen und Nobile, die von hier in den 20er Jahren in die noch unbekannten Weiten der Nordpolregionen starteten. 

Karge Weiten und dicke Suppe

Auf den Sommertag folgt ein Tag mit Sturm und prasselnden Sintfluten, erst am nächsten Tag wage ich mich trotz Regens wieder auf die Straße nach Norden. Der nächste Ort Vardø ist über 95 km entfernt und dazwischen warten Weiten, die immer karger und steiniger werden.

Mann auf seinem mit roten Taschen bepackten Fahrrad blinzelt in die Kamera. Dahinter eine weite Flusslandschaft.
Reinhard Pantke unterwegs

Es ist fast so, als gäbe es eine geheime Absprache, wenn man die Stadt verlassen hat. Man sieht nur noch kleinere Büsche und fährt durch die kargen Weiten oft nur einen Steinwurf vom Meer entfernt. Aus dem hartnäckigen Nieselregen wird bei einstelligen Temperaturen dichter Nebel. Bei Sichtweiten von manchmal kaum 20 Metern taste ich mich durch die Landschaft, bereit mich jederzeit an den äußersten Rand der Straße zu quetschen, wenn sich Autos aus beiden Richtungen nähern. Ab und an tauchen schemenhaft einige Rentiere aus dem dichten Nebel auf. 

Als Nichtradler kann man sich wahrscheinlich kaum vorstellen, welche "Freudenstürme" ein unerwartet auftauchendes kleines, neues Café auslöst, das die köstlichsten Waffeln und Kuchen serviert. Bald danach wartet der "Abstieg in die Unterwelt": Die Fahrt durch den ältesten Unterwassertunnel Norwegens, der schon 1983 die Fähre ersetzte. Mit dem Fahrrad fast 90 Meter unter der Meeresoberfläche zu radeln, löst bei mir noch immer leicht klaustrophobische Gefühle aus. Als ich nach fast 3 km wieder auftauche, sehe ich nur langsam die Häuser aus der Nebelsuppe auftauchen.

Vardø – Stadt der Extreme

Hafengebäude spiegeln sich im Wasser
Der Hafen von Vardø mit der markanten Eismeerkathedrale.

Die Stadt Vardø mit ihren knapp 2.000 Einwohnern ist extrem gelegen: Der nächste Nachbar in Richtung Osten ist Russland und der "Nordpol Kro" erinnert auch daran, dass es zum Nordpol (Luftlinie) nur wenig weiter als zur norwegischen Hauptstadt Oslo ist. Der Ort liegt als einziger Norwegens in der arktischen Klimazone, die Durchschnittstemperaturen klettern in keinem Monat über die 10-Grad-Marke. Zwei Monate ist die Sonne im Winter nicht zu sehen, und vom 17. Mai bis 26. Juli ist Polartag. Obwohl die Sonne jetzt Ende Juli wieder untergeht, wird es noch bis Ende August dauern, bis es nachts richtig dunkel wird. Die Stadt hat eine verhältnismäßig hohe Arbeitslosenquote. Umso mehr lassen die Einwohner ihrer Kreativität freien Lauf: Überall sehe ich Wandmalereien und staune über fantasievolle Kunstwerke aus Holz. 

Am Abend schlendere ich durch die Stadt und gehe in einen kleinen Imbiss, der damit wirbt, am Ende der Welt über 100 Biersorten zu servieren, natürlich zu typisch norwegischen Preisen. "Mindestens zweimal im Jahr fliege ich nach Deutschland und teste neue Biersorten für meinen Laden.", erzählt mir der Wirt stolz. Es gibt sicher schlechtere Möglichkeiten, Arbeit und Freizeit zu verbinden.

Der einsame Baum

Ein kleiner Vogelbeerbaum vor einer getäfelten Hauswand mit Fenstern.
Der einsame Baum in Vardø

In einer kleinen Festung, die ihren Ursprung im 13. Jahrhundert hat, steht zumindest aus Sicht der Einheimischen die absolute botanische Sensation der Stadt: Der einzige Baum ist ein schmales Exemplar eines Vogelbeerbaums, der sich wohl nie über den Windschutz der umliegenden grasbewachsenen Dächer hinauswagen wird. Im Winter wird der Schatz dick eingepackt. Seitdem ich in den 90er Jahren das letzte Mal hier war, hat das Bäumchen scheinbar nur wenige Zentimeter zugelegt.

Extreme Randlagen mögen mit ein Grund für extreme Gedanken sein: Vardø hat den unrühmlichen Ruf die "Hexenverbrennungsstadt Skandinaviens" zu sein. An dieses Schicksal erinnert das Steilneset-Mahnmal, das der Schweizer Architekt Peter Zumthor hier 2011 kreierte. Die norwegischen Königin weihte das berührende Mahnmal persönlich ein. Mit der Konstruktion, die teils einem norwegischen Trockenfischgestell ähnelt, wird an die Schicksale der 91 Männer und Frauen erinnert, die der Hexerei bezichtigt und verbrannt worden sind. Ihre Schicksale werden eindrucksvoll beschrieben. Die letzte Hexenverbrennung fand hier noch im Jahr 1711 statt. Im zweiten Gebäude bilden ovale Spiegel einen Kreis um die Feuerstelle, ähnlich wie Richter um das arme Opfer. 

Extreme Landschaften bringen Menschen wohl auch auf extrem grausame Ideen.

Hornøya – ein Himmel voller Vögel

Die Dreizehenmöwen, die hier auf allen freien Simsen und Molen sitzen und in den taghellen Nächten so manchen um den Schlaf bringen können, sind ein kleiner Vorgeschmack auf die unbewohnte Insel Hornøya, die gleichzeitig der östlichste Punkt Norwegens ist – die Insel liegt soweit östlich wie in etwa Istanbul. 

Am nächsten Morgen geht es mit dem schnellen Boot der Hafenmeisterei in 15 Minuten zu der vorgelagerten Insel. Erst hört man nur das schrille Rufen, dann taucht der schroffe Vogelfelsen aus dem Nebel auf und am Himmel schwirren Tausende kleiner Punkte durch die Luft.

Ein Papageitaucher auf seinem Nest
Farbenfrohe Papageitaucher sind Sommergäste an der norwegischen Küste.

Ich habe in Norwegen einige Brutkolonien gesehen, aber hier schaut man nicht vom Rand einer hohen Klippe in die Kolonie hinunter, sondern geht, ganz legal, auf einem schmalen Pfad mitten hindurch: Die Vögel haben kaum Scheu vor Zweibeinern, nur wenige Meter neben mir nisten 80.000 Seevögel. Trottellummen, Krähenscharben, Dreizehenmöwen und Papageitaucher sind neben vielen anderen die zahlenmäßig häufigsten Vertreter. Jeder Zentimeter wird zur Brut genutzt. Als ich auf einer Holztreppe stehenbleibe, zwickt mich eine Krähenscharbe, die direkt unter der Treppe brütet, in die Waden. Einige der putzigen Papageitaucher kommen sogar neugierig auf mich zu gewatschelt und machen ein paar Meter neben mir ein entspanntes Nickerchen! 

Den Beständen hier scheint es anders als den Kolonien weiter im Süden Norwegens noch relativ gut zu gehen. Insbesondere die Papageitaucher haben vielerorts Probleme, da die Sandaale, die die Haupternährungsquelle sind, knapp werden. Wissenschaftler vermuten, dass die Sandaale in südlicheren Brutgebieten, sich in Regionen mit kälteren Meerestemperaturen zurückziehen. Ein magischer Ort voller Leben, von dem ich mich schwer wieder trennen kann. Wer dort hin will, sollte wissen, dass die Kolonie ab Ende Juli rasch kleiner wird.

Infos zur Vogelinsel: www.vardohavn.no/experiences/bird-watching-at-hornoya

Abstecher zum Geisterdorf Hamningberg

Wer noch genug Zeit hat, sollte unbedingt noch die letzten 50, teils extrem kurvigen Kilometer auf der schmalen Straße nach Hamningberg in Angriff nehmen. Die urweltliche Landschaft gleicht einem Lehrbuch der Geologie. Die wild erodierten Felsen sind nur von Flechten und Moosen bewachsen und der Weg gleicht einem Slalomparcour.

Alte Häuser findet man auf der Varangerhalbinsel selten: 90 % der gesamten Bausubstanz in der Finnmark sind im zweiten Weltkrieg durch die Kriegshandlungen oder beim Rückzug durch die deutsche Wehrmacht zerstört worden. Der Ort Hamningberg am nördlichen Ende der Halbinsel ist eine der wenigen Ausnahmen. Bald nach dem zweiten Weltkrieg wurde er zum Geisterdorf. Im Sommer kehrt jedoch das Leben zurück: Man kann sich in einem kleinen Café mit Waffeln und Kaffee stärken, bevor es wieder zurückgeht.

Fahrrad bepackt mit Radtaschen am Rand einer gerade langen Straße, daneben ein Warnschild vor Rentieren und Kühen.
Dies ist die einzige Region Norwegens, die in der Arktis liegt.

Wieder zurück in Vardø, merke ich, wie wichtig die täglichen Schiffe der Hurtigruten noch heute für die abgelegenen Orte der Finnmark sind. Um meine nächste Station Mehamm zu erreichen, müsste ich entweder fast 200 km auf der selben Strecke zurück radeln und insgesamt 350 km radeln oder aber 6 Stunden gemütlich über das spiegelglatte Nordmeer zur nächsten Station auf der einsamen Halbinsel schippern. Besonders im Winter, wenn die Straßen gesperrt sind, ist daher das tägliche Küstenschiff noch immer ein wichtiges Transportmittel. Aber das ist eine andere Geschichte...
 

Reisezeit: Die beste Zeit ist von Mitte/Ende Juni bis Mitte/Ende August. Aufgrund der extremen Lage sollte man auch im Sommer mit herbstlichen Temperaturen rechnen! Selbst im Juni kann es immer nochmal Schneeschauer geben. Ab Anfang September hat man Chancen, wieder Nordlichter zu sehen.

Transport: Vadsö und Vardö werden von den Hurtigruten und Havila angesteuert. Regionale Busse gehen von Tana Bru bis Vardö.

Übernachten: Offzielle Campingplätze gibt es in Vadsø und Tanu Bru, entlang der Strecke finden sich aber jede Menge gut Stellen zum Zelten, was für nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer:innen nach dem Jedermannsrecht erlaubt ist. Nur in Vardö muß man sich eine feste Unterkunft suchen.

Zuverlässige Wetterberichtewww.yr.no

Info: www.visitnorway.de/varanger www.nordnorge.com/varanger

Fotos und Text: Reinhard Pantke
www.reinhard-pantke.de