Text & Bilder von Andrea C. Bayer
Riding Mountain National Park, Clear Lake, Wasagaming: Das ist da, wo sich wehender Schnee von unten nach oben bewegt und sich wo all das, was im Sommer gewiss großartig ist, im Winter noch viel intensiver anfühlt. Es ist Februar. Das Thermometer zeigt minus 41 Grad an. Der sogenannte Windchill ist da noch nicht eingerechnet. Ich senke den Kopf, trotze dem Wind und stampfe mit mühevollen Schritten übers Eis. Der Clear Lake wartet mit einer stabilen Eisschicht von knapp eineinhalb Metern auf. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Schnee aufwirbeln, der so aussieht, als würde jemand in der Mitte des Sees ein Bühnenbild von Frau Holle umdrehen.
Mein Ziel ist eines von vier Zelten auf dem See: Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben angeln. Das hat mich nie besonders interessiert, so gerne ich auch frischen Fisch esse. Heute ist das anders: Die Familie von Ashley Smith hat mich eingeladen, mich mit der uralten indigenen Tradition des Eisfischens vertraut zu machen. Der Riding Mountain National Park gehört zum Treaty 2-Gebiet. Hier leben überwiegend Anishinaabe. Ashley ist eine von ihnen und die erste Anbieterin von Erlebnissen wie dem Eisangeln, die ihre Kultur und Traditionen mit der touristischen Entwicklung hier in der Region verknüpfen.
Tretschlitten- und Schneeschuh-Spaß
Wie in Trance führe ich meine Angel auf und ab. Immer wieder zucke ich zusammen, meine, es hat etwas angebissen, und stelle regelmäßig fest: Es ist lediglich das Eis, das mit meiner Angelschnur kuschelt. Stetiges Freischaufeln des Loches ist Pflicht. Miles, mit dem ich unterwegs bin, formt derweil Teig zu Bannockfladen, die wir auf dem kleinen Ofen ausbacken. Draußen scheint es heller zu werden. Ich husche vors Zelt, mache ein paar Fotos. Schwupps, sind die Finger wieder kalt! Meine Lektion: So kurz der Moment auch sein mag, geh nie, nie, nie bei minus 41 Grad ohne Handschuhe aus dem Haus.
Überhaupt ist der Alltag in sechs Kleidungsschichten ein besonderer, an den ich mich jedoch recht flugs gewöhne. Schon bald nehme auch ich meine Mütze nicht mehr ab, wenn ich mich in einem Café aufwärme. Man macht das hier so. Ich verstehe warum: Ständiges Aus- und wieder Anziehen ist umständlich. Das Aufwärmen dauert so oder so einen Augenblick. Und dann wird’s eh wieder Zeit, rauszugehen.
Wir spazieren durch Wasagaming, den Hauptort des Nationalparks. An die 30 Menschen leben hier. Dicke Eiszapfen und Schneehüte zieren die Häuser. Die Sonne lässt die Landschaft glitzern und meine Wangen erröten. Den Nachmittag verbringe ich auf einem Tretschlitten und auf Schneeschuhen. Die Sache mit dem Tretschlitten ist auch ein Novum für mich. Ich liebe es! Anschieben, aufspringen, lenken. Nochmal und nochmal ächze ich den kleinen Berg am Ortsanfang hinauf, sause hinab und bekomme nicht genug. „Lass uns ein bisschen ans Feuer sitzen, bevor wir auf die Schneeschuhe gehen”, ruft mir Miles zu. Wenige Minuten später wickle ich Bannockteig um Holzstöckchen und übe mich wieder in Geduld. Wie gut dieses Spiel aus Anstrengung und Pause, Kälte und Wärme und starken Kontrasten tut!
Auf der Schneeschuh-Runde auf dem Brûlé Trail ist es plötzlich so windstill, dass ich die Handschuhe ausziehen und meinen Schal aus dem Gesicht räumen kann. Der Himmel strahlt in schier surrealem Blau. Schneegebilde auf Ästen und Baumstumpf wirken wie eine stumme Zauberlandschaft. Ich bleibe stehen, um all das in mir aufzusaugen. Was dabei passiert, überwältigt mich: Es ist so still und mein Kopf und Körper sind so eins mit dieser Landschaft, dass ich meinen Herzschlag höre. Laut und schnell. Wieder trifft Wärme auf die uns umgebende Kälte.
Übernachten in den Turtle Shells
Als ich am nächsten Morgen aufwache, wünsche ich mir, ich könnte bei diesem wahrgewordenen Traum auf die Pausentaste drücken und einfach hierbleiben. Ich habe die Nacht in einer Turtle Shell verbracht. Das ist eine Art Tiny House mitten im Wald, auf dem Campingplatz von Wasagaming. Wie der Panzer einer Schildkröte schützen die Mini-Einheiten für zwei Personen vor Wetter, Wind und wilden Tieren. Das Holz im Inneren, die weichen Decken, der kleine gasbetriebene Heizkörper – ich möchte gar nicht raus und bin kurz davor, Ashley, die auch das Turtle Village betreibt, zu fragen, ob ich nicht noch ein paar Tage bleiben darf.
Erst einmal aber wickle ich mich wieder in meine sechs Schichten ein und mache mich auf zum See: Der Sonnenaufgang steht kurz bevor. Ich möchte die Morgenruhe und das Licht genießen. Alle paar Meter verändern sich die Geräusche unter meinen Winterstiefeln, während ich über den See gehe. Wüsste ich nicht, wie dick und sicher und lange der schon gefroren ist, wäre ich wohl ganz schön unruhig. Mit dem Wissen aber ist es einfach nur ein großartiges Erlebnis für die Sinne, dem etwas folgt, was die Menschen hier liebevoll als Manitoba-Mascara bezeichnen. Meine Haare, Wimpern und Augenbrauen tragen einen weißen Schleier. Schnell gefriert jegliche Feuchtigkeit und nach etwa einer Viertelstunde spüre ich, dass die Kälte sich ihren Weg durch die Kleiderschichten bahnt. Ich passe noch den aufsteigenden Sonnenball hinter der Dorfkulisse ab. Dann geht’s hinein ins Café des Lakehouse. Meine Finger umklammern den Becher mit heißem Kaffee. Ich freue mich auf ein üppiges Frühstück und beobachte beseelt, wie die Familie am Nebentisch fröhlich Karten spielt.
Ich mag diese unaufgeregte Atmosphäre, die Freundlichkeit der Menschen und den tiefen Bezug zur Natur, zu den Jahreszeiten und zu der Kultur und Geschichte, die Kanada prägt. Als ich am Abend im Klar Sø Nordic Spa in den Nachthimmel schaue, spüre ich: Ich bin bereit für mehr Winter und ich bin bereit für die Stadt. Der Nationalpark hat mich begeistert und beruhigt. Nun bin ich neugierig auf Winnipeg.
Mit dem Eisfahrrad durch Winnipeg
Auch hier ist es kalt. Auch hier fegt der Wind durch die Straßen. Und drinnen wartet, egal wo, ein Kosmos des Wohlfühlens auf uns. Wir werden von Kellern gefragt, wie es uns geht, und verstehen, sie erwarten eine Antwort. Sie nehmen sich Zeit und wir sind so schnell mittendrin, wie man das wohl nur in Städten und Kulturen erlebt, die einerseits seit langen Zeiten das Zusammensein mit Fremden, Reisenden und Gästen gewohnt sind, und sich zum anderen sehr echt über Besucher freuen, die Essen genießen, Neugier zeigen und einfach dabei sind. Das gilt für Cafés und Restaurants genauso wie fürs Kunstmuseum.
Die weltweit größte Sammlung traditioneller und zeitgenössischer Inuit-Kunst in der Winnipeg Art Gallery zieht mich so sehr in ihren Bann, dass ich fast vergesse, dass ich mir noch ein weiteres erstes Mal gebucht habe. Auf einem Eisfahrrad ratsche ich über die vereisten Flüsse Assiniboine River und Red River. Wo man im Sommer mit Kajaks entlang paddelt, wird nun geradelt, spaziert und mit Schlittschuhen an mir vorbeigeflitzt. Die „Peggers”, wie die Einwohner der Hauptstadt von Manitoba genannt werden, sind ein aktives Völkchen. Schlittschuhlaufen und Eishockey sind Nationalsport. Das merkt man auch hier.
Zum nächsten Aufwärmen geht’s in die Weiten von The Forks. Hier wurde bereits vor 6.000 Jahren Handel betrieben. Heute stöbert man durch lokales Kunsthandwerk und versucht, sich für eines der zahlreichen Kulinarikangebote zu entscheiden. Für mich wird es eine Zimtschnecke. Wie alle Portionen in Manitoba ist auch die riesig. Sie sieht aus wie das, was ich aus meiner Kindheit als Schneckennudel kenne. Sie schmeckt wie das, was ich im schwedischen Café-Alltag liebe. Und sie ist, das erfahre ich aus gleich mehreren Gesprächen, ein fester Bestandteil der kanadischen Esskultur. Die Welt ist eben doch ein Dorf.
Ich freue mich jetzt schon darauf, diese Prärieprovinz im Herzen Kanadas irgendwann auch einmal im Sommer kennenzulernen. Mit Grün statt Weiß, mit Bisonherden und Wanderungen im Riding Mountain National Park und ganz sicher weiteren Nächten in den Turtle Shells.
Fünf Tipps für Deine Winterauszeit in Manitoba:
1. Festival du Voyageur, Winnipeg
Das frankophile Festival, das Mitte Februar in Winnipeg stattfindet, ist Westkanadas größtes Winterfestival. Hier werden riesige Schneeskulpturen kreiert. Am Abend wird zu Livemusik in Zelten getanzt und im historischen Handelsposten Fort Gibraltar fühlt man sich in die Zeiten des Pelzhandels zurückversetzt.
2. The Leaf, Winnipeg
Wer dem Winter für einen Moment entfliehen möchte, besucht The Leaf. Der Indoor-Garten am Eingang des Assiniboine Parks wartet mit vier Klimazonen, einem Wasserfall und exotischen Schmetterlingen auf.
3. Snow Maze, St. Adolphe
Südlich von Winnipeg sucht man sich seinen Weg durch das weltgrößte und ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommene Schneelabyrinth. Unterwegs trifft man auf Figuren aus Schnee und Eis und wärmt sich zwischendurch am Feuer auf.
4. Winterspaß im Riding Mountain National Park, Wasagaming
Schneeskulpturen formen, mit Tretschlitten über die gefrorenen Straßen düsen oder in aller Ruhe auf Schneeschuhen durch den Winterwald stapfen: Die Nonprofit-Organisation Friends of Riding Mountain National Park sorgt mit Ausrüstung und Aktivitäten für bleibende Wintererinnerungen.
5. Hotel Wyndham Garden Winnipeg Airport
Eine Außenarchitektur, die den Kreislauf des Lebens widerspiegelt, Kunst in allen Räumen und eine Speisekarte, auf der Chefköchin Jennifer Ballantyne traditionelle und moderne Küche verbindet: Das zwischen Flughafen und Innenstadt gelegene Hotel mit dem freundlichen Service ist ein prima Einstieg in ein ganzheitliches Erleben der Prärieprovinz.
Zur Autorin
Andrea C. Bayer ist als freie Autorin leidenschaftlich in der Natur unterwegs, zu Fuß und auch gerne auf dem Wasser im Seekajak. Auf ihrer Webseite www.kopffreitage.de finden sich zahlreiche Tourentipps und Reportagen aus Deutschland, Dänemark, Frankreich, Schweden, Norwegen und Co.



