von Ralf Stefan Beppler
Bei allem Respekt gegenüber den Membranen oder der Funktionswäsche: Fleece haben die eigentliche Bekleidungsrevolution ausgelöst. Fleece ist so selbstverständlich geworden wie ein T- oder Sweatshirt. Und keine der anderen beiden Bekleidungslagen ist ähnlich geadelt worden.
Heraklit gilt als der Philosoph der Flusslehre, die besagt, dass alles fließt und nichts bleibt. Es gäbe nur „ein ewiges Werden und Wandeln“. Man könnte meinen, dass die bislang recht kurze Geschichte des Fleece die Theorie unterstreicht. Fleece ist eine Erfindung der frühen 80er Jahre. Vom gänzlich unbekannten Stoff ist das Fleece innerhalb weniger Jahre zum Überflieger geworden, um danach abzustürzen und doch wieder aufzustehen. Fleece ist vom Sonderling zum Kultstück avanciert, um danach von der Massenware zum Spezialistentum zurückzukehren. Aber alles der Reihe nach.
Fleece – die zweite Lage im Zwiebelsystem
Die zweite Lage ist sicher die vielseitigste Lage im Zwiebelsystem funktioneller Bekleidung. Gute Isolationsfähigkeit auch bei Nässe, hohe Atmungsaktivität und schnelle Trocknungszeiten sind ihre wichtigsten Funktionen. Dazu sollte alles möglichst leicht und klein zu verpacken sein. Das alles kann Fleece.
Die uweite Lage wird häufig salopp als die „Wärmelage“ bezeichnet, aber das stimmt nicht. Die zweite Lage wärmt nicht aktiv. Ihre Aufgabe ist die Isolation, also der Erhalt der Körperwärme. Wie viel Wärme der Körper produziert, hängt von der Intensität der Aktivität, dem Fitnessstand, der zur Verfügung stehenden Kalorien und den vorherrschenden klimatischen Bedingungen ab.
DIE KRATZIGER JAHRE
Die zweite Lage im funktionellen Bekleidungssystem war lange dem Strickpulli reserviert. Strick, das konnte Wolle oder Acryl sein. Die damalige Wolle war nicht die hochfeine Merinowolle, wie wir sie heute kennen, sondern eher kratzige Shettlandwolle. Hauptsache warm. Zum Glück gab es in den 70er Jahren eine Kunstfaserlösung: Faserpelze, englisch Pile. Faserpelze unterschieden sich in der Herstellung, der Weichheit, dem Abrieb („Pilling“) und der Isolation. Faserpelze waren, vereinfacht ausgedrückt, Knüpfteppiche zum Überziehen, bei denen der Flor büschelweise in ein Grundmaterial eingeschoben und durch Umschlingen des Fadens fixiert wird. Der Vorteil der Piles: Sie hatten ein Feuchtigkeitsmanagement. Der Nachteil: Sie waren schwer, etwas steif und nur von einer Seite kuschelig.
Schließlich gab es noch Bunting als filzähnliche Konstruktionen aus synthetischen Fasern mit zwei weichen Seiten. Bunting war der Vorläufer vom Fleece. Leider hatte Bunting ein ernsthaftes Pillingproblem. Wie konnte man etwas herstellen, was wie Mutter Naturs Felle funktionierte?
Der Pelz der Eisbären war die perfekte Isolation in den kältesten Regionen – selbst im Wasser – und ruckzuck wieder trocken. Der Clou: Die einzelnen Haare sind innen hohl. Den Pelz des Eisbären zu kopieren war die Grundlage des Fleece. Der Schritt hieß Hohlfaser.
DAS KUSCHELZEITALTER
1981 erfand Malden Mills „Polartec“ – also Fleece – auf der Basis der DuPont Polyesterhohlfaser Dacron. Das war revolutionär. So revolutionär, dass das amerikanische Time Magazine in der Retrospektive des 20. Jahrhunderts Polartec-Fleece als eine der wichtigsten Innovationen dieses Jahrhunderts bezeichnete. Fleece reihte sich ein in Erfindungen wie dem Computer, der Waschmaschine, der Pille, dem Handy oder dem Lego-Baustein. Dass ein Stück Stoff so wichtig gewesen sein soll? Kaum vorstellbar, aber wahr.
Die Erfindung wurde möglich, da der technische Fortschritt bei Synthetikfasern zu feineren Faserfilamenten führte, die neue Verarbeitungs- und Aufbereitungsvarianten erlaubten. Fleece ist ein Frottee-Gestrick mit Umkehrplattierung und besonderer Veredelung. Die Schlingenoberflächen werden aufgerauht, aufgerissen und geschoren, der Grund dabei verdichtet. Es entsteht ein beidseitig feiner, gleichmäßiger, weicher Flor mit hoher Isolation. Standardfleece besteht zu 100% aus Polyester. Neben Polartec tummeln sich andere Markenhersteller auf dem Fleecemarkt: Pontetorto mit Tecnopile, Eschler Husky-Fleece, Eybl Silz, Cloverbrooks, Glenpile, Huntington Mills, Calamai, Kingwhale oder Begacli um nur einige zu nennen. Standardfleece ist mittlerweile ein Massenprodukt und die Outdoorbranche produziert nur noch einen Bruchteil der weltweiten Menge.
NEUE OPTIKEN, MEHR FUNKTIONEN
Die Entwicklung auf dem Fast Fashion Markt war schon früh erkennbar. Deshalb steckte Polartec Geld und Hirnschmalz in die Entwicklung spezieller Optiken, andere Konstruktionen und bessere, speziellere Funktionalitäten. Mit Erfolg: 1995 erhielt ein Fleecestoff erstmals den „European Outdoor Award“, die höchste Auszeichnung der Berg- und Outdoorbranche. Polartec hatte mit „BiPolar“ das erste Fleece mit unterschiedlichen Eigenschaften auf der Innen- (starker Bausch für hohen Lufteinschluß) bzw. Außenseite (robuster, wind- und wasserresistenter) präsentiert. Damit wurde eine technische Fleece-Generation eingeführt. Aber auch in Freizeit und Mode sind Fleece zu Hause.
FLEECE IST NACHHALTIG – HURRA!
Die gute Nachricht zuerst: Polyester ist im Sinne des "Cradle to Cradle"-Recyclings, d. h. echter Kreislaufwirtschaft, ein idealer Stoff. Zum einen ist Polyester das Hauptmaterial in der Bekleidungsindustrie – es gibt also viel Rohmaterial –, zum anderen lässt sich Polyester auch aus PET herstellen, dem Grundstoff von Getränkeflaschen. Anfang der 90er Jahre war man schon soweit, PET zu neuem Polyester zu recyclen. Die Firma Vaude z. B. machte damals bereits Funktionsbekleidung und -ausrüstung aus sortenreinem Polyester, um es dann komplett recyceln zu können. Auch andere Marken hatten schon recyceltes Fleece im Programm.
In der Regel wird heute Fleece aus PET-Flaschen hergestellt. Die Rohmassenqualität ist hier am besten und am konstantesten. Um einen Fleecepulli herzustellen, bedarf es etwa 25 PET Flaschen. Angesichts von jährlich 108 Milliarden Flaschen (ca. 3 Mio Tonnen PET), die allein Coca Cola laut eigenen Angaben aus dem Jahr 2017 herstellt und damit etwa ein Fünftel der weltweiten PET-Flaschenproduktion ausmacht, ist der Recyclingrohstoff nahezu unerschöpflich. Leider wird noch viel zu wenig PET recycelt. Das Gros wird als Ersatzbrennstoff verbrannt, landet auf Mülldeponien, in der Umwelt oder dem Meer. Nichtsdestotrotz: Seit dem ersten Fleece hat Polartec etwa 1,5 Mrd. PET Flaschen recycelt und spricht dabei von 25% weniger Energieverbrauch, 50% weniger Wasserverbrauch und 6.500 Tonnen weniger CO²-Footprint im Jahr. Letztlich ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch ein Schritt in die richtige Richtung.
POLYESTERVERMÜLLUNG DES PLANETEN
Damit sind wir aber auch schon bei der schlechten Nachricht. Nicht nur hinkt die Recyclingquote hinter unserer „Müll“-Produktion her – mit dem Ergebnis, dass Umwelt und Meere immer schneller vermüllen mit schlimmen Konsequenzen für die Artenvielfalt, für das Trinkwasser und uns Menschen. Mit der ganzen synthetischen Bekleidung (nicht nur Fleece) haben wir auch zu einem nicht-sichtbaren Problem beigetragen: Die Mikroplastikverschmutzung.
Das Umweltbundesamt (UBA) stellte fest, dass „Fleece-Pullover (…) 1% bis 5% ihres Gewichtes während einer geschätzten fünfjährigen Nutzungsphase in Waschgängen verlieren.“ Andere Studien gehen zwar teilweise von geringeren Mengen aus, aber auch durch Faserflug beim Tragen gehen Fasern verloren. Die Plymouth University fand heraus, dass eine Waschmaschinenladung Wäsche von 6 Kg bei 30 bis 40°C gewaschen bis zu 730.000 mikroskopisch kleine Synthetikfasern frei setzt. Dabei reagieren verschiedene Synthetikfasern unterschiedlich. Acryl setzte in den Untersuchungen das meiste Mikroplastik frei, Baumwollmischgewebe mit 138.000 Fasern am wenigsten. Polyester lag bei 496.000 Mikropartikel an zweiter Stelle. Neuere Forschungen am Thema Mikroplastik sprechen sogar davon, dass das Problem auf der nächstkleineren Ebene, der Nanoplastik-Verschmutzung, noch kritischer sei. Es gäbe keine Organismen auf der Welt, in denen noch keine Nanoplastikpartikel gefunden worden seien – sogar in der Tiefsee.
NEUE FLEECE-GENERATIONEN IM KOMMEN
Zwei Lösungsansätze werden verfolgt. Einerseits lassen sich Filter in die Waschmaschinen einbauen, die Mikropartikel zurückhalten können. Andererseits arbeitet man an Bekleidung, die weniger bis keine Partikel abreiben – was eigentlich unmöglich ist, weil Abrieb ein Verschleißvorgang ist.
Ein erster Stoff war Biopile vom Fleecehersteller Pontetorto. Dahinter verbirgt sich ein Fleece, das teilweise aus der biologisch abbaubaren Holzzellulosefaser Tencel besteht. Das Material besteht aus einer glatten recycelten Polyester-Außenseite und einer flauschigen Holzfaser-Innenseite. Mittlerweile gibt es Biopile Hanf. Hanf reagiere am besten auf biologische Abbaubarkeit, so Pontetorto, und sei funktioneller, weil es bis 95% UV-Strahlung filtern könne, ein sehr gutes Feuchtigkeitsmanagement habe, geruchshemmend wirke und als Hohlfaser sehr gut isoliere. Dazu ist Hanf im Anbau sehr nachhaltig, weil es als Tiefwurzler nicht bewässert werden müsse und keine Pestizide, Insektizide oder Düngemittel brauche.
Auch Polartec hat zusammen mit der schwedischen Marke Houdini eine neue Fleecekategorie entwickelt, die den Verlust von Mikrofasern reduziert: Polartec Power Air. Natürlich ist Power Air aus recyceltem PET (zu 73%) und kann recycelt werden. Der Clou dabei: Die Strickkonstruktion bildet Lufttaschen, die einerseits isolieren, andererseits die Fasern einschließen.
Einen weiteren Ansatz verfolgt u. a. die Firma Vaude mit Fleece aus der natürlichen Hohlfaser Kapok, die gelegentlich auch wegen ihres Bausches als Pflanzendaune bezeichnet wird. Kapok lässt sich auch als Jersey bei T-Shirts, zurzeit schon bei Tatonka erhältlich, oder als Bauschfaser für Schlafsackfüllungen nutzen.
Auch mit Abaca wird fleißig experimentiert. Das Blatt der Faserbanane lässt sich fast wie Hanf handhaben und kann zu Garnen verarbeitet werden, die thermoregulierend und leicht sind, ein gutes Feuchtigkeitsmanagement haben, UV-Schutz bewirken und biologisch abbaubar sind. Das Wichtige bei Naturfasern: Sie müssen aus kontrolliert biologischem Anbau stammen. Chemie aus Pestiziden, Insektiziden, Fungiziden oder synthetischem Dünger bauen sich nämlich nicht ab, sondern bleiben in der Natur. Dazu kommt, dass Fische auch solche Mikroartikel fressen und sie dann über die Nahrungskette auch bei uns auf dem Teller landen.
Der Weg zu sauberer Bekleidung ist ein langer, die Probleme vielschichtig. Eins kann der Verbraucher gegenwärtig bereits tun: Hochwertige Bekleidung kaufen! Der Trend zu billiger Massenware, die nicht mal mehr von Altkleidersammlern genommen werden, weil sie chemisch verseucht und im Neuzustand bereits minderwertig sind (vgl. Spiegel Online „Altkleidermarkt vor dem Kollaps: Die Fast Fashion Flut“ vom 16. August 2020) ist verantwortungslos.