Into the wild

Das Moor ist eine faszinierende Landschaft. Mystisch das ganze Jahr, besonders gespenstisch jedoch im Winter. Ein Ort der Extreme, pendelnd zwischen Trockenheit und Nässe. Lebensfeindlich, karg und dennoch unglaublich schön. Eines der schönsten Moorgebiete unserer Gefilde ist das Hohe Venn, gleich hinter der deutschbelgischen Grenze. Schmale Holzstege und Pfade, sumpfige Wege und federweiche Böden führen hier vielerorts durch die einzigartige Landschaft, die sich stellenweise so wild und einsam gestaltet, dass man sich im hohen Norden von Skandinavien wähnt.

Überreste eines Totenwaldes zwischen Greitzbusch und Noir Flohay

Die Dimension des Raums, hier im Moor der belgischen Hochebene scheint sie greif- und sichtbar. Kilometerweit erstreckt sich das kalte Moor vor meinen Augen, bereits wenige Schritte hinter Baraque Michel, von wo ich gestartet bin und das ganz nahe am höchsten Punkt von Belgien liegt. Ich erspähe blass-graue Findlinge, vereinzelt in der Weite. Eingerahmt von müdem Wollgras, welches vom strengen Winter gezeichnet platt zu Boden fällt. Behütet von abgestorbenen Birken und Kiefern, die einem der letzten Moorbrände zum Opfer gefallen sein dürften. Wie tote Soldaten wachen sie noch immer über das Land. Knorrig, bizarr und tapfer recken sie sich gen Himmel und halten den Naturgewalten dieser kompromisslosen Landschaft irgendwie stand. Es ist bitterkalt, mein Atem verdunstet sichtbar vor meinen Augen in einer Wolke. Stetig, rhythmisch.

Schnaufend durchs Moor

Kaum zu glauben: Nur wenige Kilometer entfernt ist die Hill als Rinnsal dem Moor entsprungen

Es ist ein unwirkliches Bild, welches meine ersten Meter über die kilometerlangen Holzstege begleitet, die sich in zahllosen kleinen Windungen durch das Moor bahnen. Planke für Planke laufe ich mitten hinein in einen Ort, an dem kein Mensch es länger ohne Hilfsmittel aushalten könnte. Ich liebe solch‘ menschenfeindliche Orte, in die ich für gewisse Zeit eindringen und die ich für einen kurzen Moment mit allen Sinnen wahrnehmen kann. Wo ich wieder so etwas wie Demut spüre. Neben mir gurgelt das Wasser der noch jungen Hill, die irgendwo hier entsprungen sein muss. Schnell wächst sie zu einem stattlichen Bach, später zu einem richtigen Fluss an. Bei soviel Wasser hier im Moor ist das wenig verwunderlich. Dennoch erstaunlich und sehenswert, die Geburt eines Flusses so deutlich auf nur wenigen Kilometern miterleben zu können.

Die Holzstege habe ich mittlerweile hinter mir gelassen. Jetzt spüre ich, was es heißt, auf Moorboden zu wandern. In der kleinen Senke der Hill ist der schmale Pfad mittlerweile von nassen Steinen, Pfützen, Tümpeln und jeder Menge Schlamm gezeichnet. Jeder Schritt will überlegt sein, lässt mich mal im braunen Matsch versinken, mal vom weichen Boden leicht zurückfedern. Im Flachland des Moores unterwegs, komme ich aufgrund dieser schwierigen Verhältnisse doch leicht ins Schwitzen. Die morschen, teilweise gebrochenen Planken, die einst über die besonders überfluteten Bereiche des Weges gelegt wurden, sind keine große Hilfe mehr. Noch immer begleitet mich die Hill zu meiner Rechten. Vorhin noch ein müdes Rinnsal, nun ein plätschernder Bach. Links wie rechts gerahmt von Moorbirken, die dem eifrigen Gewässer treu Spalier zu stehen scheinen. Ein abenteuerlicher Ort, eine abenteuerliche Wanderung.

Das Gefühl von Einsamkeit

Grau, karg, scheinbar leblos: Düstere Stimmung im Hohen Venn

Dann gelange ich zu einer kleinen, verwitterten Holzbrücke, der Pont Marie-Anne Libert. Sie markiert den Auftakt einer der wildesten Passagen im dichtbesiedelten Herzen von Europa, die ich je gelaufen bin. Wieder ein paar Holzstege, diesmal deutlich schmaler. Mehr als drei, vier Füße passen hier nicht nebeneinander. Auch hier sind die Holzplanken oftmals morsch und nicht mehr intakt. Was sich zunächst abschreckend anhören mag, ist einfach nur abenteuerlich und ein Riesenspaß. Immer wieder bin ich gezwungen, über sumpfige Abschnitte zu hüpfen, über querliegende Baumstämme zu balancieren oder auch mal den Fuß in den feuchten Sumpf zu platzieren. Um mich herum ist nichts. Wirklich: Nichts. Nur die mittlerweile schon rauschende Hill und der Sumpf. Die Holzstege, das einzige Zeichen menschlicher Zivilisation weit und breit. Kilometerlange Stille und Einsamkeit.

Durch den Totenwald

Eine Wildnis, die sich bewundernswert zu wandeln weiß. Mal erinnert sie an die schottischen Highlands, dann wähnt man sich in Kanada und ein wenig später im finnischen Lappland. Der Fluss indes windet sich in zahllosen Kurven durch das Tal, nagt am Relief, modelliert kleine Felswände oder mäandert friedlich durch das sumpfige Moor. Ich mache eine Rast am Wasser, lausche der Stille und kann nicht so recht glauben, mich hier so wenige Kilometer entfernt von der Metropolregion Köln-Bonn zu befinden. Die Einsamkeit begleitet mich noch ein wenig bis zu einer weiteren Holzbrücke an einem Ort namens Brandehaag-Bongard. Hier wird der Weg etwas breiter und ich verlasse die Hill, die sich von hier ohne mich in Richtung Meer aufmacht. Zunächst noch durch einen lichten Wald, dann erreiche ich erneut das Moor.

Zwei Totenbäume bei Noir Flohay ragen in den Himmel

Wieder führen mich schmale Holzstege und verwunschene Pfadspuren durch den Sumpf, diesmal leiten sie mich sogar meist trockenen Fußes durch den Morast. Ab und zu reist der Himmel auf. Die warme Sonne, eine Wohltat für die kalte Haut. Das Hohe Venn ist hier gespickt von kleinen Wäldchen, manchmal noch grün und satt wie der Petit Bongard, oftmals abgestorben und knorrig wie der Geitzbusch, der einem düsteren Märchen entsprungen sein könnte. An dessen Rand stehen tote Bäume, ragen stumm und leblos in den Himmel und geben ein wahrlich skurriles Motiv ab. Am Waldboden liegt großes wie kleines Totholz kreuz und quer. Das mystischste dieser Wäldchen ist jedoch der Totenwald von Noir Flohay, der wenig später eine ziemlich schaurige Stimmung verbreitet. Die einzelnen, krumm und schief gewachsenen Bäume, oder das was von ihnen noch übrig ist, erinnern im wahrsten Sinne des Wortes an knochige Gespenster. Dünne, abgemergelte Kieferngerippe ragen aus der mit üppigen Gräsern überwachsenen Hochebene und erzählen die Geschichte eines kleinen Kiefernwäldchens, das den großen Moorbrand im Jahre 2011 und die dauernden Kämpfe gegen den Winter nicht überlebte.

Moorbrände lodern nicht lange. Sie schwelen quasi unterirdisch vor sich hin, da vor allem das unter dem Gras liegende Torf gut brennbar ist, an das jedoch kaum Sauerstoff gelangt. So verkokelt das Moor buchstäblich und die typischen Totenwälder entstehen.

Überall entdecke ich verkohlte Holzreste und hölzernen Skelette am Wegesrand an einem Ort, der als einer der markantesten Punkte im ganzen Venn gilt. Der krönende Abschluss, ehe es über einen sumpfigen, teilweise überfluteten Pfad und letztlich einige Holzstege zurück nach Baraque Michel geht. Zurück aus der Wildnis.

 

Text und Bilder von Jarle Sänger

erschienen in der OutdoorWelten Winter 2021/2022
diese und weitere Ausgaben sind im Shop unter www.wandermagazin.de erhältlich