Der Shintoismus ist der traditionelle Glaube der Japaner:innen, eine in den Kräften der Natur verankerte Naturreligion. Shinto lässt sich sinngemäß mit „Weg der Götter“ übersetzen. Die Übersetzung lässt bereits erkennen, dass sich im Shintoismus nichts nach einem einzigen, allmächtigen Schöpfer ausrichtet. Somit kann es auch keine „einzig wahren Dogmen“ geben. Die dennoch vorhandenen religiösen Grundsätze und Regeln werden durch verschiedene Götter und Geister, den Kami, bestimmt. Ein schriftliches Werk, wie die Bibel im Christentum oder der Koran im Islam, existiert im Shintoismus nicht. Ausschließlich durch mündliche Überlieferung bestimmt der Shintoismus das Leben der meisten Japaner:innen. Der Besuch eines Shinto-Schreins ist ein besonderes Erlebnis. Vielleicht lässt sich der Shintoismus im eigentlichen Sinne viel mehr als Philosophie denn als Religion begreifen. Shinto ist eine Lebenseinstellung, eine Art zu denken, die seit der Antike bis heute ein wesentlicher Bestandteil der japanischen Kultur ist.

Kami und Matsuri

Zentrale Punkte sind dabei die Natur und die zahllosen Kami, auf deren Respekt der shintoistische Glauben ruht. Die Berge haben ihren Kami und die Meere haben ihren Kami, Mutter und Vater haben ihren Kami, wie auch der Nachrichtensprecher im Fernsehen seinen Kami hat. Kami sind in jedem Menschen und in jeder Sache.

Bhuddistische Priester © Japanische Fremdenverkehrszentrale, Frankfurt 

Ein Kami ist auch in der westlichen Welt bekannt, wenn auch in anderen Zusammenhängen: Kamikaze. Kamikaze bedeutet soviel wie „göttlicher Wind“. Als im 13. Jahrhundert der Mongolenherrscher Kublai Khan zweimal versuchte, Japan zu unterwerfen, wurden seine Pläne beide Male von einem Taifun zunichte gemacht. Der Kami des Windes beschützte Japan. Nicht erst seit diesen Geschehnissen sind Dankbarkeit für die Natur, aber auch die notwendige Ehrfurcht vor ihr im Glauben der Japanerinnen und Japaner untrennbar miteinander verbunden. Als Beispiel dafür sei das Meer genannt: Einerseits sorgt es dafür, dass dessen Fische die Menschen ernähren. Andererseits bringt das Meer Flutwellen, durch die Menschen sterben – das eine gibt es nicht ohne das andere. Das Wissen um diese gegenseitige Abhängigkeit veranlasst die Japaner, die jeweiligen Kami milde zu stimmen, bei Laune zu halten oder Wünsche für die Zukunft zu äußern. Dazu werden Zeremonien, die Matsuri, durchgeführt. Ziel ist es, die harmonischen Ebenen zwischen Individuum und Kollektiv zur Welt zu stärken.

Matsuri ist ein Sammelbegriff für Zeremonien, Rituale und Feste, die keinem festgelegten, allgemeingültigen Ablauf folgen. Was sie allesamt aber eint, ist ein heiliger Ort, an dem sich die Menschen versammeln. Hierbei fällt der Natur wieder eine bedeutende Rolle zu, denn diese heiligen Orte sind stets natürliche Orte, beispielsweise markante Felsen oder alte Bäume. Ideale Orte, um die Kami anzusprechen und zu lobpreisen. Die Jahreszeiten sind für die Matsuri nicht unwichtig, denn auch hier findet sich Naturgegebenes wieder: Im Frühjahr wird für eine gute Ernte gebetet und im Herbst für die Ernte gedankt. Matsuri haben neben der strengen religiösen Seite aber auch eine vergnügte, denn Kami mögen durchaus auch die heiteren Seiten des Lebens.

Die Shinto-Schreine

Ob nun am Strand, auf einem Berg oder inmitten des Waldes, einst genügte den Gläubigen der heilige Ort unter freiem Himmel, um mit den Kami in Kontakt zu treten. Später begann man mit dem Bau einfacher Unterstände und Hütten, um für die Kami und Gläubigen zentrale Stätten zu schaffen. Aus diesen zunächst sehr einfachen Bauten entstanden im Laufe der Zeit die im Japanischen als Jinja bezeichneten Shinto- Schreine. Mit dieser Entwicklung ging einher, dass Schreine für bestimmte Kami errichtet wurden. Musste in der Vergangenheit der gewünschte Kami erst herbeigerufen werden, konnte er nun gezielt aufgesucht werden. Und so ist das bis heute – dafür stehen den Gläubigen über 80.000 Shinto- Schreine zur Verfügung.

Die Jinja sind heilige Orte, deren Betreten das Reinigen von Händen und Mund, was im übertragenen Sinne die Reinigung von Körper und Geist ausdrückt, voraussetzt. Dass die Schreine von stattlichen Bäumen umgeben sind, ist natürlich alles andere als ein Zufall. Bäume sind lebenswichtig, hier fühlen sich Mensch und Kami wohl. Ein Shinto-Schrein ist nicht nur ein Ort zum Beten, er ist gleichwohl ein Ort des Innehaltens, der inneren Einkehr.

Der Große Ise-Schrein

Die Geschichte des Großen Ise-Schreins, des Jingus, reicht mehr als 2000 Jahre zurück. Der Jingu besteht aus dem Geku (der äußere Schrein) und dem Naiku (dem inneren Schrein). Diese beiden großen Schreine bilden mit weiteren 123 kleineren Schreinen eine weitläufige Anlage, deren Besichtigung einer Halbtageswanderung gleichkommt. Der Jingu ist nicht nur das Zentrum aller Schreine des Landes, sondern auch der bedeutendste Shinto-Schrein Japans.

Der Torii ist der Eingang zum Shinto-Schrein  © Thorsten Hoyer 

Der Naiku ist Amaterasu gewidmet, der „großen Kami, die den Himmel erleuchtet“. Amaterasu gilt als wichtigste Kami, da sie als Begründerin des japanischen Kaiserhauses und damit als Ahnherrin aller japanischer Kaiser tief verehrt wird. Bis heute steht der Kaiser für die Verkörperung von Tradition und nationalem Charakter seines Landes. In Jingu durchgeführte außergewöhnliche Zeremonien stehen unter der persönlichen Leitung des Tennos. Am 01. Mai 2019 bestieg Kaiser Naruhito, Sohn des zurückgetretenen Kaisers Akihito, als 126. Tenno den Kaiserthron. 

Vor dem Gebet steht die Reinigung

Ein Temizuya für die Reinigung vor dem Eintritt in einen Schrein
© Thorsten Hoyer 

Wer sich für den Shintoismus interessiert und sich den Traditionen dieser Jahrtausende alten Religion und damit der Naturphilosophie Japans nähern möchte, für den ist der Besuch des Großen Ise-Schreins ein tiefgreifendes Erlebnis. Der Besuch Jingus beginnt mit dem Durchqueren eines mächtigen Torii, dem symbolischen Eingangstor zu einem Shinto-Schrein. Hinter dem Torii geht man über die Ujibashi-Brücke und damit über den Fluss Isuzu. Für Shinto-Gläubige symbolisiert dies den Weg von der profanen Welt in die spirituelle Welt des Shintoismus. Vor dem Besuch eines Schreines müssen Körper und Geist durch das Temizu rituell gereinigt werden. Dafür befindet sich vor dem Schrein ein Wasserbecken mit Kellen.

Die Reinigung

1. Die Kelle wird in die rechte Hand genommen und mit Wasser gefüllt. Das Wasser wird über die linke Hand gegossen.
2. Anschließend wird die Kelle in die gereinigte linke Hand genommen und die rechte Hand abgespült.
3. Nun wird die Kelle wieder mit der rechten Hand genommen, Wasser in die linke Hand gegossen und zum Mund geführt. Die Kelle soll nicht mit dem Mund berührt werden!
4. Zum Schluss wird nochmals die linke Hand abgespült, und anschließend lässt man das restliche Wasser aus der Kelle über den Griff laufen, damit auch dieser wieder gereinigt ist.


Nun wird vor den Schrein getreten und zu Kami gebetet. Dabei ist folgendes zu beachten:
1. Zweimal tief verbeugen
2. Zweimal in die Hände klatschen
3. Noch einmal tief verbeugen

Der japanische Garten

Die Spiritualität der Natur spiegelt sich auch in der japanischen Gartenbaukunst wider. Das Integrieren von Brücken erfolgt in Anlehnung an das Feng-Shui. Da sich das Böse in geraden Linien bewegt, kann es Brücken mit abbiegendem Wegeverlauf nicht folgen, es stürzt verwirrt ins Wasser und verliert somit seine Kraft. Brücken stehen aber auch für den Übergang von der profanen in eine spirituelle Welt, wie beim Großen Ise-Schrein. Brücken symbolisieren Harmonie und wirken unterstützend bei der meditativen Orientierung.

Wasser, Brücken und Bäume spielen in japanischen Gärten eine bedeutende Rolle 
© Japanische Fremdenverkehrszentrale, Frankfurt 

Eine besondere Form des klassischen japanischen Gartens ist der Kare-san sui, ein Trockenlandschaftsgarten. Hier fehlen die ansonsten wichtigen Elemente wie Wasser, Brücken, Bäume und verschlungene Wege. Im Kare-san sui findet man nicht viel mehr als Steine, Kies, Sand und Moos. Die Klarheit des Gartens sowie das ruhige Harken des Kieses führt zu einem kontemplativen Zustand von Seele und Geist. Trotz aller Reduktion, der Konzentration auf das absolute Minimum, ist die Natur nicht ausgeschlossen. Die in den Sand oder Kies um die Steine gezogenen Linien stehen zum Beispiel für das Wasser, dessen Wellen das Land umspülen, oder für die Wolken, die sich um einen Berg hüllen.

Im Gegensatz zur westlichen Welt, wo es Mode geworden ist, Buddha-Statuen als schmückendes Accesoire in Gärten zu platzieren, erinnert das Abbild Siddharta Gautamas an seine Lehre und das Ziel, Erleuchtung zu erlangen und das Nirvana zu erreichen. Was einfach klingt, ist im buddhistischen Glauben allerdings ein langer und mühsamer Weg von sich wiederholendem Tod und Wiedergeburt. Shintoismus und Buddhismus sind eng miteinander verflochten und wurden erst im 19. Jahrhundert voneinander getrennt, als der Shintoismus Japans Staatsreligion wurde. Nach einer Zeit der strikten Isolierung können heute beide Religionen wieder gleichzeitig gelebt werden. Die Bevölkerung praktiziert das ganz pragmatisch, insbesondere beim Ableben eines Angehörigen erfolgen Bestattungen oftmals nach buddhistischem Brauch. Da im Shintoismus kein Jenseits existiert, verweilen die Seelen der Verstorbenen noch Jahrzehnte auf der Erde und gehen dann erst in die Welt der Kami über.

Chado – der „Teeweg“

Bei einer traditionellen japanischen Teezeremonie bleibt wirklich nichts dem Zufall überlassen 
© Thorsten Hoyer 

Japanische Gärten bieten den perfekten Raum für Teehäuser, in denen der Chado, die als Teeweg bezeichnete traditionelle japanische Teezeremonie, zelebriert wird. Um das schiere Trinken von Tee geht es dabei nicht, das ist nur eine Nebensächlichkeit. Eine Teezeremonie folgt einem exakt festgelegtem Ablauf, der sich seit Jahrhunderten nicht verändert hat. Durch das strikte Ritual sollen Respekt, Gelassenheit, Harmonie sowie spirituelle Reinheit erlangt werden. Schnell mal einen Teebeutel aufbrühen? Eile ist völlig fehl am Platz, ein Chado benötigt mindestens eine Stunde Zeit!

Die Zeremonie beginnt mit der Reinigung der Hände und des Mundes. Nach dem Betreten des Raumes wird sich schweigend hingekniet, den Blick auf die Teemeisterin gerichtet, die vor einem kleinen Holzkohleofen mit einem eisernen Wasserkessel kniet. Nach deren Verbeugung nehmen die Gäste kleine Speisen zu sich. Anschließend werden die für die Zubereitung des Tees notwendigen Gegenstände in festgelegter Reihenfolge platziert. Die Teeschalen werden mit heißem, aber nicht kochendem Wasser befüllt, dann wieder entleert und mit einem Seidentuch ausgewischt. Nun wird mit einem speziellen Bambuslöffel das grüne Pulver des Macha-Tees in eine der Teeschalen gegeben und mit nicht mehr als 80° C heißem Wasser übergossen. Das Ganze wird mit dem Chasen, einem Teebesen aus Bambus, schaumig geschlagen. Dem Gast wird die Teeschale gereicht, er macht eine Verbeugung, trinkt den Tee in zwei bis drei Schlucken und reicht die Teeschale mit beiden Händen zurück. Wichtig dabei: die bewundernden Blicke zur Teeschale! In der Regel kommen bei einem Chado alte und wertvolle Teeschalen zum Einsatz, was vom Gast mit Achtung und Anerkennung honoriert wird.

Die Schreine, die Gärten, die Zeremonien – wenn man Japan bereist, trifft man auf diese offensichtlichen Zeugen einer umfangreichen Tradition und einer schwer fassbaren Religiosität. Sie können eine erste Annäherung sein an ein anderes Verständnis von Natur, Geist und Seele. Für ein umfängliches Verständnis reicht ein (westliches) Menschenleben wohl kaum aus. Vielleicht „zeigen“ sich bei einer weiteren Annäherung auch die Kami – einen Versuch wäre es wert.
 

Wanderweg von Tokio nach Osaka © Thorsten Hoyer 

Tipps für Japan in der Präfektur Mie

Reisezeit: Der Besuch des Großen Ise-Schreins in der Präfektur Mie ist das ganze Jahr über möglich. An den Neujahrstagen ist der Schrein sehr gut besucht, da zu Beginn des Jahres um Glück für das neue Jahr gebeten wird. Empfehlenswert für eine Reise sind die Monate April und Mai sowie September und Oktober. Die Sommermonate können schwülwarm bis heiß sein, die Winter – auch was die Schneeverhältnisse angeht - ähneln denen in Mitteleuropa. Sehenswert ist im März die Blüte der Pflaumenbäume, wenn die umliegenden Berge noch von Schnee bedeckt sind.


Anreise: Von allen großen Flughäfen in Deutschland fliegen zahlreiche Airlines nach Osaka (Kansai). Nonstopflüge dauern etwa 11,5 Stunden. Von Osaka fahren die Züge der Kintetsu-Linie in die Präfektur Mie, Fahrzeit nach Ise rund 2 Stunden.


Autorentipps: Etwa auf halber Strecke zwischen Osaka und der Stadt Ise liegt das familiengeführte Misugi Resort. Der Familie Nakagawa ist es ein Anliegen, ihren Gästen die Region und ihre Natur ohne „Schnickschnack“ zu zeigen. Zu den Angeboten zählen das hauseigene Onsen, Waldbaden (Shinrin Yoku), Zen- Buddhismus-Zeremonien, traditionelle Teezeremonien und einiges mehr. Zudem werden Besuche des Ise-Jingu organisiert.
Weitere Infos: www.misugi.com
Dem jungen Unternehmen Inaka Tourism ist es wichtig, Besucher und Einheimische zusammenzubringen. So werden Übernachtungen in privaten, traditionellen Häusern vermittelt.
Weitere Infos: www.inaka-tourism.com


Literaturtipp: „Japans Heilige Plätze – Wo die Götter wohnen“ ist ein spannender Reisebildband, der natürlich auch den Großen Ise-Schrein ausführlich zeigt. Verlagshaus Würzburg, ISBN 978-3800348541, 200 Seiten, 29,95 EUR.

 

Thorsten Hoyer
 Erschienen in der OutdoorWelten Winterausgabe 2019/2020.
Diese und alle weiteren Ausgaben sind im Shop unter www.wandermagazin.de erhältlich.