2018 beschloss die Thüringer Landesregierung, fünf Prozent der Waldfläche Thüringens aus der forstwirtschaftlichen Nutzung zu nehmen. Damit trägt das Bundesland zunächst einmal „seinen Teil“ zum bundesweit angestrebten Ziel der Fünf-Prozent-Wälder bei. Filmemacher und Ökologe David Cebulla hat sich mit der Kamera auf die Suche gemacht und neben vielen faszinierenden Tierarten auch Menschen mit ihrer Meinung zu den wilden Wäldern vor die Kamera bekommen. Wie sieht es in diesen wilden Wäldern Thüringens aus? Welche Arten sind dort anzutreffen? Und welchen Stellenwert haben die wilden Wälder für die Artenvielfalt und den Klimaschutz? Das und mehr haben wir David Cebulla in einem Interview gefragt.
„Wilde Wälder“ – Ein Film von David Cebulla
Wie im Prolog des Film erwähnt wird, erfüllt unser Wald vielfältige Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktionen: Er versorgt uns mit Sauerstoff, speichert Wasser und CO2, liefert einen nachwachsenden Rohstoff, bietet Menschen einen Erholungsort und nicht zuletzt ist er vor allem auch Lebensraum für viele verschiedene Tiere. Kann der Wald all diesen Anforderungen gerecht werden?
Nein, unsere Wälder können all diesen Anforderungen nicht gleichzeitig gerecht werden. Sie befinden sich derzeit in einem riesigen Spannungsfeld, welches sich durch die Trockenheit und z. B. den Borkenkäferbefall in den letzten Jahren noch verschärft hat. Wir Menschen profitieren von einem funktionierenden Ökosystem. Alle Dinge, die die Natur für uns bereitstellt, kann man unter dem Begriff der Ökosystemdienstleistungen zusammenfassen. Dazu gehört Holz als Rohstoff, aber auch die Bestäuberleistung einer Biene oder das Produzieren von Sauerstoff. Eine intensive Waldbewirtschaftung geht oft auf Kosten der anderen Ökosystemdienstleistungen – und der Artenvielfalt. Schon deshalb sollten wir die Natur schützen, weil sie die Lebensgrundlage für uns Menschen ist. Ich bin zusätzlich der Meinung, dass man Natur um ihrer selbst willen schützen sollte.
Welchen Stellenwert können die Fünf-Prozent-Wälder haben?
Die aus der Nutzung genommenen Wälder schaffen wenigstens auf einem kleinen Gebiet Raum für natürliche Waldentwicklung. Viele Arten sind an spezielle Entwicklungsstadien des Waldes angepasst, welche in einem bewirtschafteten Wald gar nicht mehr vorhanden sind. Den sogenannten Fünf-Prozent-Wäldern kommt also für diese Arten eine ganz wichtige Rolle als letztes Refugium zu. Wo keine forstliche Nutzung erfolgt, entsteht mehr Raum für Natur- und Artenschutz, aber auch für Erholung. Denkt man dann noch weiter, welche Funktion ein intaktes Waldökosystem z. B. bei der Reduzierung von Sturmschäden oder der Abschwächung von Hochwasser und Dürren hat, die uns als Gesellschaft auch in Zukunft riesige Schadenssummen bescheren werden, gebietet es uns unsere eigene Zukunft, in natürliche Ökosysteme zu investieren.
In deinem Dokumentarfilm sehen wir nicht nur tolle Tieraufnahmen von Uhus, Fledermäusen, Wildkatzen und vielen mehr, du erklärst auch sehr viel über die Lebensweise dieser Tierarten, über Forstwirtschaft und Naturschutz. Manchmal trittst du auch selbst vor die Kamera oder wir sehen dich direkt bei der Arbeit ähnlich wie in einem Making-Of. Warum hast du dich für dieses Format und diese Machart des Films entschieden?
Es gibt verschiedene Arten von Naturfilmen. In der klassischen Form ist oft das Tier der Protagonist in einer fiktiven Geschichte. Ich bin nicht nur Naturfilmer, sondern auch Ökologe und möchte Tieren keine Motivationen zuschreiben oder diese gar vermenschlichen. Für die Storyline des Films braucht es deshalb einen menschlichen Protagonisten, dem die Zuschauer:innen folgen können. Durch den Making-Of-Charakter erlaube ich den Zuschauer:innen, ganz nah dabei zu sein. Sie können mir bei meiner Arbeit direkt über die Schulter schauen. Ich denke, das ist Teil eines größeren Wandels des Genres, den ich aktiv mitgestalten möchte.
Auch in wissenschaftlichen Arbeiten gibt es eine stete Entwicklung hin zum “ich”, anstelle vom vermeintlich objektiven Verfasser einer Studie. Ein Film kann nie objektiv sein, da er immer aus einer bestimmten Motivation heraus hergestellt wird. Authentizität und Transparenz sind mir wichtig. Wenn ich selbst vor die Kamera trete, können Zuschauer besser nachvollziehen, wie Bilder entstehen, was meine Motivation und Gedanken sind.
Was war deine ursprüngliche Motivation für diesen Film?
Was mich besonders interessiert, ist das Verhalten von Tieren, die für den Moment von menschlichen Einflüssen ungestört sind. Das habe ich beim Dreh von “Wilde Wälder” auch gefunden. Das politische Vorhaben, Wälder aus der forstlichen Nutzung zu nehmen, wird zu meinem Unverständnis in Thüringen nicht systematisch wissenschaftlich begleitet. Darum wollte ich auch den Zustand zu Beginn der Stilllegung erfassen. Es ist eine Dokumentation des Ist-Zustandes.
Seitens der Behörden gab es einige Hürden, was das Aufstellen deiner Kameras betraf. Wie erklärst du dir das?
Zum Glück haben die meisten Naturschutzbehörden meine Arbeit bewilligt und begrüßt. Es stimmt, dass die Zusammenarbeit an einigen Stellen nicht gegeben oder kompliziert war. Warum ein Wildtiermonitoring nicht erwünscht ist, wenn das letzte bereits Jahre zurückliegt, kann ich nicht sagen. Auch die mit dem Projekt verbundene Umweltbildung finde ich extrem wichtig. Offenbar sehen das einige Behörden in Thüringen anders. Ich kann nur vermuten, dass dahinter vielleicht die Bestrebung steht, die Deutungshoheit über ein Gebiet oder Thema zu behalten. Unabhängige Stimmen oder Erkenntnisse von außen stören da vielleicht.
Was war dein Lieblingsmoment bei den Dreharbeiten oder deine Lieblingszene?
Ich hatte bei den Dreharbeiten so viele tolle Momente, in denen ich Tiere völlig ungestört beobachten konnte: Die Abende am Dachsbau, das Beobachten der Uhujungen, die kleinen Frischlinge, das Rehkitz oder die Momente, in denen ich tatsächlich Wildkatzen vor den Kameras hatte, waren besonders für mich. Während der Nachproduktion sieht man den eigenen Film wirklich sehr oft und kennt viele Szenen sehr genau. Wenn am Ende des Films der Abspann läuft, wird mir immer wieder bewusst, wie viel Arbeit in diesem Film steckt, wie viel Zeit und Geld er gekostet hat. Dann bin ich schon stolz auf das fertige Produkt als Ganzes.
Was hat dich bei den Dreharbeiten überrascht?
Für die Dreharbeiten zu diesem Film konnte ich unsere Natur vor der eigenen Haustür in Deutschland noch einmal mit ganz anderen Augen kennen- und schätzen lernen. Wir haben hier so viele fantastische Tier- und Pflanzenarten, so viele verschiedene Landschaftsformen und -typen, welche mich unglaublich faszinieren. Ich hätte tatsächlich nicht erwartet, dass ich mitten in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland auch manchmal das Gefühl haben würde, mich in einer Waldwildnis zu befinden.
Wie könnte die Zukunft der Fünf-Prozent-Wälder in Thüringen aussehen und was konnte dein Film bisher bewirken?
Die weiteren Entwicklungen wissenschaftlich zu begleiten, wäre in meinen Augen extrem wichtig. Natürliche Waldentwicklung braucht Zeit und erlaubt keine voreiligen Schlüsse. Mit dem Film konnte ich aber schon einen Impuls setzen: Die Bürgermeisterin der Stadt Rastenberg am Rande der Hohen Schrecke hat mich eingeladen, den Film zu zeigen. Damit möchte sie die Bevölkerung bei der Entscheidung, Waldflächen aus der forstlichen Nutzung zu nehmen, stärker miteinbeziehen.
Sehr berührend sind auch persönliche Rückmeldungen. Eine Mutter hat mir eine Nachricht von ihrem Sohn übermittelt: "Wenn ich erwachsen bin, will ich mir auch Wälder kaufen und Urwälder entstehen lassen." Was der Film auch spenden kann, ist Trost. Eine Zuschauerin meinte: "Ich bin oft so hoffnungslos, was die Zukunft unseres Planeten betrifft, aber ihr habt mir wieder ein bisschen Hoffnung zurückgegeben." Mir bedeutet es viel, wenn Menschen durch den Film eine neue Wertschätzung für den Wald finden können.
Vielen Dank für das Interview!
Die Fragen stellte Svenja Walter
Zum Stream:
Amazon Video
Vimeo on Demand
Pantaray TV
Weitere Infos, die DVD und alle Links gibt es auch auf der Projektwebseite: www.wildewaelder.eu
Das Fünf-Prozent-Ziel der Bundesregierung
Mit dem Fünf-Prozent-Ziel hat sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2007 ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Im Rahmen der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt sollen fünf Prozent der Wälder in Deutschland bis zum Jahr 2020 aus der forstlichen Nutzung genommen und einer natürlichen Entwicklung überlassen werden. Naturnahe Wälder sind für die biologische Artenvielfalt und als Beitrag zum Klimaschutz von besonders hohem Wert. Hier dürfen die Bäume ungestört alt werden und auch in abgestorbenem Zustand im Wald bleiben. So entstehen jede Menge verschiedene Lebensräume, von denen seltene und von alten Wäldern abhängige Arten profitieren. Laut des einer Studie des Bundesamtes für Naturschutz, lag der Anteil von Naturwäldern im April 2019 – weniger als ein Jahr vor Ende dieser Frist – erst bei 2,8 Prozent.