Durch die Jahrtausende zieht sich die Metapher vom Winter als eine Zeit des Rückzugs aus dem Leben. Im antiken Mythos ist der Winter Ausdruck der Trauer Demeters um ihre vom Totengott Hades entführte Tochter. Die Natur schläft, das Leben liegt unter Eis begraben. Erst als Hades Persephone auf Zeit wieder frei lässt, erlaubt Demeter den Pflanzen erneut zu wachsen und den Bäumen, Früchte zu tragen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wandelt sich jedoch die Sicht auf den Winter, und Künstler und Literaten wie Caspar David Friedrich und Josef von Eichendorff beginnen, den pittoresken Zauber einer verschneiten Winterwelt und deren erhabene Schönheit und Größe zu thematisieren. Was ist passiert?

Winterromantikein Kind der Kohleindustrie?

Eine Antwort gibt Alan Gopnik in seiner faszinierenden Liebeserklärung an die kalte Jahreszeit Winter. Five Windows on the Season. Erst in der Moderne sei es möglich, im Winter nicht nur den Verlust von Wärme, Licht und Hoffnung, sondern auch die Gegenwart des Schönen, Geheimnisvollen und Erhabenen zu sehen, so Gopnik. Unter der Moderne versteht er „jenen historischen Zeitabschnitt, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt, das Feuer der Zwillingsdrachen der Französischen und der Industriellen Revolution atmet und aus den tiefgefüllten Zwillingslungen von angewandter Wissenschaft und Massenkultur seinen Asche-Atem noch bis ins Ende des 20. Jahrhunderts bläst. Ein Zeitalter des Wachstums und des Zweifels, ein Zeitalter, in dem zum ersten Mal viele Menschen in Europa und Amerika es wärmer haben als jemals zuvor und weniger Menschen an Gott glauben ...“

Um es etwas pragmatischer auszudrücken, die Entwicklung der Kohleindustrie und die Entwicklung der Idee des „romantischen Winters“ gingen Hand in Hand. Die Linse, durch die wir seit dem Zeitalter der Romantik auf den Winter blicken, ist, um noch einmal Gopnik zu zitieren, „das Fensterglas eines behaglich beheizten Raumes.“ Erst vor diesem Hintergrund werden dann Winterabenteuer möglich, wie sie der brillant wortkarge Hemingway uns in der Erzählung Schnee überm Land vors innere Auge zaubert. Hemingway führt uns in die Schweiz, jenes Land, in dem der Wintertourismus erfunden und die Winterromantik für ein breites Publikum erfahrbar wurden. Für die beiden Protagonisten, zwei junge Amerikaner, sind die verschneiten Berge ein Paradies, das sie auf Skiern durchpflügen und durchfliegen. Sie erleben das pure Glück, das es bedeutet, mit einem jungen und trainierten Körper in der winterlichen Natur unterwegs zu sein, den Adrenalinrausch, die grandiose Schönheit der Landschaft, den stäubenden Schnee, die klirrende Kälte und die mit einem guten Freund geteilte Einsamkeit der Bergwelt. Als die Sonne untergeht, kehren sie in ein warmes Gasthaus ein, und aus ihrer Unterhaltung wird deutlich: Die winterlichen Berge der Schweiz sind für beide eine Gegenwelt zu den Verpflichtungen des realen Lebens und das Zeitfenster, in dem sie dieses verschneite Paradies gemeinsam erkunden können, wird sich bald schließen.

Literatur als Eisberg

Die erstaunliche Wirkungskraft seines generativen Erzählstils – no emotions in sentences, lots of emotion in one page (Gertrude Stein) – erklärt Hemingway selbst übrigens interessanterweise mit dem sogenannten Eisbergmodell. Der tiefergehende Bedeutungsgehalt einer kunstvoll aufgebauten Erzählung liegt wie der Großteil der Masse eines Eisbergs im Verborgenen und muss vom Leser selbst durch dessen eigene Vorstellungskraft erschlossen werden. Der Winter ist ein Feld, auf dem literarische Metaphern fruchtbaren Boden finden. Das zeigt uns auch Mary Shelley mit ihrer großartig gewählten Eröffnungskulisse für den Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus, der im Jahr 2018 seinen 200. Geburtstag feiert und an Aktualität nicht verloren hat.

Frankenstein und der absolute Winter

1816 ist Mary Godwin Woolstonecraft achtzehn Jahre alt, die Geliebte des noch verheirateten Dichters Percy Bysshe Shelley und hat soeben ihr erstes Kind wenige Wochen nach der Geburt verloren. Gegen den Willen ihres Vaters ist sie mit Shelley in die Schweiz gereist. Dort schreibt sie als Zeitvertreib während eines legendär verregneten Sommers mit Frankenstein oder Der moderne Prometheus jenen Roman, der wie kein Zweiter die menschliche Vorstellung von Wissenschaft und ihren moralischen Konsequenzen prägen wird. Sie erzählt die Geschichte einer entstellten Kreatur, die durch wissenschaftliche Anmaßung ins Leben gerufen und durch die Erfahrung großen seelischen Leids zum mordenden Monster wird. Der einzige Ort, an dem diese Geschichte menschlicher Abgründe und des durch sie entfesselten Grauens erzählt werden kann, ist der Nordpol, lässt die spätere Mary Shelley uns zu Beginn des Romans wissen. Für sie ist der Winter der Arktis die Antithese der vom Menschen kontrollierten Natur. In seiner Einsamkeit, Wildheit und Kälte ist dieser Winter aber auch ein Spiegelbild des Seelenzustands von Frankenstein und seinem nicht minder zerrütteten Monster. Mary Shelleys scharfsichtige Beobachtung der Strömungen des Zeitgeistes in Verbindung mit ihrem ausgeprägten Gespür für die Abgründe des Menschen verleihen ihrer Erzählung eine fast unheimliche Hellsichtigkeit. Ist es Zufall, dass Doktor Frankenstein seine Geschichte einem jungen Polarforscher zur Warnung erzählt, der in seiner Begeisterung Menschenleben für jenen Beitrag zur Wissenschaft opfern würde, den seine Reise durchs Nordmeer vermeintlich bedeutet? Hat Mary Shelley geahnt, wieviele Menschen in den kommenden Jahrzehnten bei den Expeditionen zum Nordpol ihr Leben lassen würden? Wir wissen es nicht. Sicher ist, dass sie nicht geahnt hat, dass die Monster, die zukünftige Generationen in ihrer Anmaßung auf den Plan riefen, das ewige Eis der Arktis zum Schmelzen bringen und mehr Menschenleben auslöschen würden, als Doktor Frankenstein es sich in seinen schlimmsten Alpträumen hätte vorstellen können.

Wenn ein Abenteurer in einer Winternacht ...

Wer das Abenteuer sucht – sei es in der Wissenschaft, auf Reisen oder in der Natur –, tut gut daran, seine Fähigkeiten nicht zu überschätzen. Doch manchmal suchen wir das Abenteuer gar nicht, und dennoch bricht es in unser Leben ein. Nicht selten passiert dies, wenn in der Stille des Winters die tiefsten Fragen des Lebens laut werden. So geht es dem Helden der mittelalterichen Erzählung Sir Gawain und der Grüne Ritter. Gerade noch saß er ruhig und zufrieden mit König Artus und seinen Rittern an der festlich gedeckten Neujahrstafel, nun scheint er sein Leben verwirkt zu haben. Ein gigantischer Grüner Ritter hat die Runde zu einem irrwitzigen Spiel herausgefordert, und Gawain hat die Herausforderung angenommen, ohne zu ahnen, worauf er sich einließ. Nach Ablauf eines Jahres, am Neujahrstag, ist es an ihm, vor dem grünen Riesen niederzuknien und einen Schlag mit der Axt in den Nacken zu empfangen. Der Nachhall der Geschehnisse des Neujahrsmorgens wird seine Wirkung auf Gawain im folgenden Jahr zeigen. Zu Allerheiligen und damit zu Beginn eines neuen Winters wird er aufbrechen, um den Grünen Ritter zu suchen und herauszufinden, ob er sich selbst und den Werten des Rittertums auch im Angesicht größter Herausforderung treu bleiben kann. Manchmal verändert eine Entscheidung des Augenblicks das ganze Leben. Manchmal bricht das Schicksal über uns herein. Die Frage ist dann: Stellen wir uns wie Sir Gawain der Herausforderung? Oder finden wir gute Gründe, uns zu weigern, das zu tun, von dem wir wissen, dass es richtig ist? Abenteuer sind die großen Herausforderungen des Lebens, denen wir uns gestellt haben, aus der Retrospektive betrachtet.

Der Winter ist eine gute Zeit, um sich mit dem zeitgenössischen englischen Poeten Marc McGuinness zu fragen: „Was wirst du tun, wenn das Abenteuer an deine Tür klopft?“

 

Eva Hakes