Weltweit gab es 1990 400 Millionen Reisende, 2018 waren es 1,4 Milliarden, bis 2039 sollen es 1,8 Milliarden sein. Mehr als die Hälfte von ihnen reisen per Flugzeug. Die gute Nachricht: Die Wertschöpfung für derzeit drei Millionen deutsche Beschäftigte im Tourismus ist stabil; die schlechte lautet, dass auch 2030 weder Passagierflugzeuge noch Kreuzfahrtschiffe komplett klimaneutral unterwegs sein werden.
Der Ansturm auf die letzten Paradiese der Welt, durch social media teilweise zum „Overtourism“ (Venedig, Dubrovnik, Barcelona) konterkariert, droht sie zu zerstören. Wie die Ausrüsterbranche des Outdoorsports zeigt daher auch die Reisebranche, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung bewusst sind, und steuert dagegen. Doch der Vergleich hinkt, denn die Unterschiede könnten kaum größer sein. Beide Gruppen begeistern sich für die Natur, lieben das Reisen, das Abenteuer, die Entdeckungen. Doch während die Natursportler das Ökoprofil eines Herstellers beim Produktkauf betrachten, Zertifikate und Gütesiegel registrieren, sind die meisten Reisebuchungen das knallharte Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Optimierung. Wer bietet das tollste Erlebnis zum geringsten Preis, wie komme ich per Schnäppchenpreis zum Luxustrip? Da bleibt trotz aller Stiftungen und sozialer Projekte der vier großen Reiseanbieter TUI, Thomas Cook, FTI und DER das Gefühl, dass in dieser Branche Kernthemen der Nachhaltigkeit ein Nischendasein führen. Was sich auch nicht so schnell ändern wird. Muss das entmutigen? Oder sollte es nicht eher der Weckruf – nicht nur für naturbegeisterte Outdoorsportler – sein, sich mal die Anbieter genauer anzuschauen, die bewusst einen anderen Weg gehen? Wir wollen das in den nächsten Ausgaben aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und haben 2019 auf der ITB dazu den ersten Schritt gemacht, haben mit Verantwortlichen gesprochen, für die Nachhaltigkeit zum Geschäftsprinzip gehört.
2018 feierte der Verein „Forum anders Reisen“ sein 20-jähriges Bestehen. Geschäftsführerin Petra Thomas führt ihn mit langem Atem, denn „obwohl das allgemeine Interesse an Nachhaltigkeit sehr gestiegen ist, schlägt es sich in der Reisebranche nur mäßig wieder. Andere Bereiche der Gesellschaft sind da weiter, aber beim Reisen ist der Preis nach wie vor fast alleiniges Entscheidungskriterium, ein echter Qualitätskiller. Trotzdem können wir stolz sein, dass wir bereits über 140 Partner haben, die unseren zwölfseitigen Kriterienkatalog erfüllen und insgesamt mit 4000 Reisen im Angebot über 300 Millionen Euro Umsatz machen. Wenn ich dazu ergänze, dass wir unser ehrgeiziges Ziel, bis 2025 zwei Prozent des gesamten Reisemarktes als unseren Anteil zu erzielen, vermutlich nicht erreichen werden, dann haben Sie in etwa eine Vorstellung von den Dimensionen“, sagt Petra Thomas. Für die Kriterien ist ein ehrenamtliches Gremium von Wissenschaftlern zuständig, die in den Zielgebieten Zugang zu Wasser, Kinderschutz, Landrechte, Menschenrechte, soziale Standards und zahlreiche Kriterien verlangen, die ebenso für die „Tour Cert“-Zertifizierung einzelner Angebote verbindlich sind. „Wir haben das 2008 eingeführt, da es nicht reicht, ein Unternehmen zu zertifizieren, aber auf den Reisen selbst nicht zu kontrollieren – auch wenn unsere Partner allesamt diese Philosophie von sich aus vorleben und perfektionieren“, sagt Petra Thomas. Die Reisebranche isoliert für alles verantwortlich zu machen, wäre sicherlich ein Fehler. Overtourism ist zwar einerseits ein Problem, das sich durch die social media verschärft hat, aber „wir machen gerade beim Thema Besucherlenkung mit social media gute Erfahrungen und versuchen die Hotspots durch intelligente Alternativen im Hinterland zu entlasten. Beim Thema Flugkerosin muss ich wirklich den fehlenden politischen Willen ansprechen. Mit einer fairen Beteiligung über eine Kero-sinsteuer wäre im Bereich der Nachhaltigkeit mit einem Schlag sehr viel zu bewegen, aber das dauert vermutlich und erfordert ein viel stärkeres Umweltbewusstsein, als wir es heute haben“, sagt Petra Thomas.
Zu den relativ umsatzstarken Reiseanbietern mit einem klaren Bekenntnis zu hohen sozialen Standards und nachhaltigem Profil gehören „Wikinger Reisen“, der größte Anbieter weltweiter Wanderreisen, sowie Studiosus mit hochwertigen Kulturreisen. Beide Unternehmen unterstützen regionale Projekte in Zielländern durch Stiftungen und setzen auf hohe Produktqualität, die sich der Gast letztlich gern leistet, was sich am großen Stammkundenpotenzial der Unternehmen zeigt. Einigen Anbietern von Alpin- und Wanderreisen reicht das noch nicht. Sie haben fest angestellte CSR-Manager, die sich ausschließlich um neue Konzepte für Corporate Social Responsibility kümmern und deren Einhaltung betreuen.
Der in Tirol ansässige Anbieter ASI ist dafür ein Paradebeispiel. Geschäftsführer ist der ambitionierte Bergsteiger Ambros Gasser, der sich gar nicht vorstellen kann, Reisen in ferne Bergregionen anzubieten, wenn damit negative Konsequenzen verbunden wären. „Wenn wir das, was wie lieben, damit kaputtmachen würden, wäre morgen Schluss. Wir reisen nur in kleinen Gruppen, fallen nicht über fremde Kulturen mit einer großen Truppe her, wir vermeiden Kurztrips in ferne Regionen, weil sonst das Verhältnis von Kero-sinverbrauch und Reisedauer in Schieflage wäre. Ebenso garantieren wir die komplette Wertschöpfung vor Ort. Wir buchen uns in keine internationalen Hotelketten ein, sondern bei einheimischen Betreibern und Eigentümern, engagieren nur lokale Guides und versuchen Infrastrukturen zu verbessern, damit unsere Partner besser auf eigenen Füßen stehen können. Das sind bei immerhin 700 Reisen in über 80 Länder mit 25000 Buchungen viele Menschen, die sich genau dafür begeistern.“ Am Firmensitz in Natters in Tirol demonstriert ASI, wie sich die eigene Philosophie im neuen Firmengebäude zeigt. „Norwegische Architekten haben ein Passivhaus konzipiert mit vertikaler Begrünung und optimaler Ressourcennutzung der Umgebungswärme und Luftfeuchtigkeit. Es besteht komplett aus Holz, das nach einer uralten japanischen Methode haltbar gemacht wurde. Ich denke, hier wird sichtbar, dass unsere Grundphilosophie, ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit ganzheitlich zu betrachten und bis zur letzten Konsequenz umzusetzen, transparent und deutlich wird – zu Hause und an jedem unserer Reiseziele“, sagt Gasser.
In vielen Aspekten ähnlich ist das Münchner Unternehmen „Hauser Exkursionen“ aufgestellt. Allerdings verfolgte ihr Gründer Günther Hauser diese Philosophie bereits seit der Gründung, als Begriffe wie Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility noch unbekannt waren. Was Yvon Chouinard von Patagonia oder Albrecht von Däwitz, Gründer von Vaude, für die Ausrüsterszene sind, ist Günther Hauser für die Bergreisenden, Nestor des nachhaltigen Alpintourismus. Bis heute sind seine Standards verpflichtend und haben in weiten Teilen Nepals für den Aufbau intakter Infrastrukturen gesorgt. Wie bei ASI muss der Gast wissen, worauf er sich einlässt: Reisen in kleinen Gruppen in direktem Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung.
„In dieser Hinsicht sind wir ausgesprochen fordernd. Die Gäste werden bereits vor ihrer Buchung präzise informiert, was auf sie zukommt, welche Leistungen sie selbst erbringen müssen, welche Einschränkungen und Entbehrungen auf sie zukommen, aber auch, worin der Gegenwert besteht. Eine authentische Erfahrung, die die Reise zu einem unvergesslichen Erlebnis macht“ sagt Ovid Jacota, der seit fast vier Jahren das Unternehmen führt. „Bei uns gibt es keine Sonderwünsche oder Allüren, es wird niemand zum Gipfel getragen oder der Schweiß abgetupft. Entweder du bist aktives Teil einer Bergsteigertruppe oder Wandergruppe oder du lässt es lieber“, sagt Jacota. Der „Hauser-USP“ hat sich inzwischen über Jahrzehnte bewährt und einen unvergleichlich hohen Stammgästeanteil bewirkt. „Unsere Kunden brauchen das ‚Hauser-Gefühl‘ inzwischen wie bei einer Familie oder eingeschworenen Clique nach dem Motto‘ „einer für alle, alle für einen“‘, sagt Jacota stolz. Aber selbst innerhalb der rasant wachsenden und immer noch überschaubaren Gruppe nachhaltiger Reiseanbieter sticht einer heraus und sorgt seit einigen Jahren in der Branche für Irritation und Bewunderung. Wir haben uns mit Ingo Lies, dem Gründer von „Chamäleon-Reisen“ in Berlin ausführlich unterhalten.
„Die Idee wächst weiter“
Ein Gespräch mit Ingo Lies, Gründer des Unternehmens „Chamäleon Reisen“
Elena Bormann: Sie halten Vorträge vor vollen Sälen, Ihr Unternehmen wächst rasant. Was geht da gerade ab?
Ingo Lies: Das ist schon ein ziemlicher Hype, aber ich bin daran nicht ganz unschuldig. Ich habe das lange Zeit nicht gemacht, doch seit gut einem Jahr gehe ich gezielt an die Öffentlichkeit und erkläre unsere Firmenphilosophie. Reisen ist ja per se umweltschädlich. Will man für Ausgleich sorgen, kommt man im rein ökologischen Bereich nicht weit. Da fallen in anderen Bereichen des Zivilisationslebens Entscheidungen von deutlich größerer Tragweite. Deswegen muss man nicht resignieren, sondern kreativ werden und experimentieren. Für uns ist der soziale Aspekt wichtiger, da können wir mehr bewegen, was nicht heißt, dass der ökologische Aspekt hinten runterfällt. Wir unterstützen intensiv nachhaltige Projekte in Afrika und in Indien. Was in China geschehen ist, darf sich dort nicht wiederholen. Ich sehe uns da als Teil einer Entwicklung, die immer wieder große Momente und Lichtblicke hervorbringt, auch wenn das in der aktuellen Weltpolitik anders erscheint.
EB: Daher auch Ihre Reaktion, als Sie den Namen Felix Finkbeiner in Ihrem gestrigen Vortrag erwähnten?
IL: Ja, das ist so ein bewegendes Beispiel, wo die Idee eines einzelnen viral geht. Plant-for-the-planet wird wohl bald eine Milliarde Bäume gepflanzt haben.
EB: Ich habe Sie bei einem Vortrag bei München gehört, als Sie von ehrgeizigen Zielen sprachen. Kann Wachstum nicht gefährlich für die Idee von Chamäleon werden?
IL: Ich habe eine Eigenart, Dinge nicht nur anzufangen, sondern auch voranzubringen und zu vollenden. Die Frage habe ich mir auch gestellt und sie anhand einzelner Reisen durchgerechnet. 2018 hatten wir 15.000 Teilnehmer, 2020 wollen wir eine Verdoppelung erreichen. Das ist übrigens grob geschätzt das, was die TUI an einem Tag macht. Wir haben das Potenzial, unseren Umsatz zu verfünffachen, ohne dass die Quantität systemverändert wirkt, also unsere Qualität und Idee korrumpiert. Wir haben etwa hundert Mitarbeiter, bieten 100 Reisen in über 40 Länder an und haben inzwischen über 800 Gebäude errichtet. Das finde ich schon beachtlich. Geld verdienen ist o.k, viel Geld verdienen auch, aber wichtiger ist die Frage: wozu? Ein Drittel finanziert unser Unternehmen und die Mitarbeiter, ein Drittel geht in die Stiftung und ein Drittel in den Häuserbau. Das sind Darlehen, also ein Umlaufvermögen, Geld, das eines Tages zurückkommt. Das klingt jetzt so vorausschauend, aber ich fange mit der Zukunftsplanung gerade erst richtig an.
EB: Wie fing das eigentlich alles an?
IL: Ich habe als Student Nepal bereist und war von den Bergen und Menschen so begeistert, dass ich das unbedingt auch anderen zeigen wollte. Also habe ich mich im März 1995 mit selbst gedruckten Flyern vor den Nepal-Stand gestellt und meine erste Reise beworben. Damals war die ITB noch eine Publikumsmesse. Im Oktober startete meine erste Reisegruppe nach Nepal. Und da passierte etwas Überraschendes: Nach einer langen Tour besuchten wir noch eine Schule. Der Zustand war erbärmlich. Aber wir waren alle wie gebannt von der direkten Begegnung mit den Kindern und ihrem unbändigen Willen, sich unter diesen Zuständen Bildung anzueignen. Was ich nicht wusste, hinter meinem Rücken sammelte die Reisegruppe Geld für die Schule. Als ich das mitbekam, hat es bei mir gezündet. Das ging dann noch ein paarmal so und dann habe ich die Firma gegründet, aus der sich dann später Chamäleon entwickelt hat.
EB: Was war denn das Highlight für Sie im vergangenen Jahr, oder ist das zu banal gefragt?
IL: Nein gar nicht. Es gab zwei Dinge die mich geflasht haben. Das eine war die FVW-Umfrage bei Reisenden nach dem besten Anbieter. Wir haben in sieben von acht Kriterien den ersten Platz belegt. Das war besonders erfreulich, weil jedes Kriterium ganz klar einzelne Mitarbeiter betraf, beispielsweise den Telefonservice oder den Beschwerdedienst. Das Lob ließ sich also direkt an die weiterreichen, die es verdient hatten. Das andere war die Ernennung zum Senator der Deutschen Wirtschaft. Ich habe das gleich gegoogelt, weil ich dahinter irgendein teures Abo oder eine Mitgliedschaft witterte, aber dann stellte sich das als ein Ehrenamt heraus, bei dem ich an die politische Ebene rankomme, beispielsweise an Entwicklungsminister Gerd Müller.
EB: Und was hat genervt oder lief schief?
IL: Unser wichtiges Anliegen, der Häuserbau, ist schon sehr fordernd. Da verschwindet Geld, unendlich viel Behördenkram und Bürokratie bauen sich vor einem auf. Immer wieder werden Gebühren fällig, und neue Vorgaben tauchen auf. Das kostet Kraft und frustriert. Dafür wird man dann mit etwas belohnt, was wir gar nicht auf dem Schirm hatten. Die Frauen werden aktiv und organisieren. Während die Männer mit Jagen und Handwerk beschäftigt sind und kaum Interesse an Ideen und Projekten zeigen, kommen die Frauen auf uns zu und sagen: Lasst uns das probieren, wir machen das jetzt einfach. Das hat beispielsweise bei dem Stamm der San in Botswana zu einer regelrechten Stärkung der Frauenrollen geführt. Wenn wir neue Programme starten wollen, läuft das inzwischen alles über die Frauen. In Afrika läuft eigentlich alles über die Frauen.
EB: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.