Langsamer, Sebastian!«, rufe ich. Als wär’s ein Kommando zum Durchstarten, geht mein Leitkamel in rasenden Galopp. Macht Bocksprünge. Mir wird himmelangst. Krampfhaft halte ich mich mit ?der rechten Hand am Sattelgriff fest und ziehe mit der linken die Zügel so eng, dass er seinen Kopf wie eine Kobra in die Höhe streckt. Plötzlich hört jeglicher Spaß auf. Er rast in unkontrollierter Geschwindigkeit über den groben Schotter, als der Sattel zu rutschen anfängt. Es kann nicht mehr lange dauern, bis ich falle – und sollte ich den Sturz aus dieser Höhe bei diesem Tempo überleben, wird mir der nachfolgende Har die mit stampfenden Fu?ßen den Rest geben. Mein Herz rast, und ich kämpfe ganz plötz lich um mein Leben. »Stand! Stand! Stand!«, brülle ich. Vergebens. Dann taucht nur etwa 500 Meter vor uns der Great Eastern Highway auf. Sebastian rast auf die schwer befahrene Hauptstraße zu. Es kann nur noch Sekunden dauern, bis der Sattel nach rechts weggerutscht ist und ich unter die Hufe komme oder von einem der Road Trains überrollt werde, wenn Sebas tian die Straße kreuzt. Soll ich abspringen? Urplötzlich erinnere ich mich an die mahnenden Worte einer Reitlehrerin. »Wenn dein Hengst durchgeht, kannst du ihn nur bremsen, indem du den Zügel nach rechts oder links reißt! Vergiss das nicht!« Kurz vor dem Highway reiße ich also blitz artig Sebastians Nasenleine nach rechts – worauf er augenblicklich in einen großen Bogen galoppiert. Mit aller Kraft halte ich die Nasenleine einseitig gezogen, und der Kreis wird enger, bis Sebastian zum Stehen kommt. »Usch! Usch, Sebastian!«, brülle ich mit brennender Lunge, um ihn zum Absetzen zu bewegen.
Die Vorbereitungen Um ein Haar wäre, noch bevor es losging, schon alles ge scheitert. Was für ein enormer Aufwand, das große Abenteuer zu finanzieren und die Ausrüstung zusammenzubekommen. Ein ganzes Jahr lang hatten sie Sebastian, Hardie, Goola, Jafar und Istan trainiert, ihre Kamel jungs, die sie in den nächsten drei Jahren 7000 Kilometer durch das Outback begleiten sollten. Mit ihrem Hund Rufus, der für sein Leben gern alles jagt, was ausreißt, war die kleine Karawane komplett.
Die letzten eineinhalb Jahre der Vorbereitung waren für uns so hart, dass ich mich oft gefragt habe, warum und wofür wir solche Ent behrungen auf uns nehmen. Jetzt aber weiß ich es wieder. Es ist einfach unbeschreiblich schön, wieder im Schoß von Mutter Natur sein zu dürfen. Eigenartig ist es nur, wie an strengend es auf der anderen Seite ist, sich von unserer Zivilisation loszueisen. Sehnsüchtig fiebern wir der Freiheit entgegen, die uns die unerschöpfliche Natur die ses mystischen Landes mit seinem Urvolk der Aborigines, seiner fremdartigen Vegetation, dem riesigen Busch und Steppenland, seinen ewigen, oft trostlosen Wüsten und seinen eigenwilligen Tieren wie den Kängu rus, Koalas und Krokodilen zu bieten verspricht.
Die ersten 2200 Kilometer führten entlang der historischen Goldroute von Süd nach Nordwesten bis zum Indischen Ozean. Dann sollte es etwa 1800 Kilometer durch die Wüste Zentralaustraliens bis nach Alice Springs gehen. Und von dort noch 3000 Kilometer bis zur Ostküste.
Ich habe mir selbst versprochen, nicht durch Australien zu hetzen. Tanja und ich wollen dieses Land genießen und es mit all seiner Schönheit und Einmaligkeit erleben. Unsere Expedition soll nichts mit Zeitdruck zu tun haben. Nachts sitzen Tanja und ich am Feuer, und wir bestaunen unaufhörlich die klare Sicht zu den Sternen. Die Milch straße hier draußen scheint zum Greifen nahe zu sein. Manchmal kommt einer der Güterzu? ge vorbeigedonnert. Ich nenne diesen Zug »Geist«, weil man ihn schon minutenlang vor seiner Ankunft hört. Dann zerschneidet der Scheinwerfer der Zugmaschinen die Nacht und taucht einen Teil der Lichtung in ein gleißendes, unechtes Licht, um in nur Bruchteilen weniger Sekunden danach wie der im Nichts zu verschwinden.
Ganze 30 Jahre – so lang soll »Die Große Reise« dauern, das Lebensprojekt von Denis Katzer (Jahrgang 1960) und seiner Frau Tanja (Jahrgang 1970) – die längste dokumentierte Expedition der Menschheitsgeschichte. Schon seit 1991 sind die beiden Abenteurer, Filmemacher, Fotografen und Autoren unterwegs. Inzwischen haben sie 275 000 Kilometer zurückgelegt. Auf dem Rücken von Kamelen, Pferden oder Elefanten, zu Fuß oder mit landesüblichen Verkehrsmitteln. Es ist eine Reise zu den Grenzen – und über diese hinaus. Eine Reise über Ländergrenzen und Kontinente, zu Völkern und Kulturen – und zu den Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit, zu den Grenzen des eigenen Ichs. Besonders hart aber war die Karawane durchs Outback. In ihren Reisetagebüchern (www.deniskatzer.de/de/ tagebuecher/australienredearthexpediti on) schildern sie ungefiltert und voller Leidenschaft, was der Tag Spektakuläres und Enttäuschendes, Aufregendes und Banales brachte – und die unglaublich komplizierte und aufwendige Logistik ihrer »Großen Reise«.
Die tägliche Routine- Drei Stunden dauert es allein, bis das Lager abgebaut ist und die Kamele mit insgesamt 1000 Kilogramm Ausrüstung beladen sind. Die ersten Wochen laufen wir häufig neben der Eisenbahnlinie. Wenn ein Zug kommt, müssen wir aufpassen, dass unsere Kara wane vor Furcht nicht durchgeht und im Outback verschwindet. Immer wieder Zäune. Zäune sind ein ständiges, arbeitsauf wendiges Hindernis. Wenn ich kein Gatter finde, muss ich den Zaun umlegen. Ab und Aufbau dauern zwei bis drei Stunden. Auf der gesamten Strecke werden wir über 500 Zäune überwinden.
Mit GPS navigiere ich unsere Karawane durch die Wüsten, immer auch auf der Suche nach Wasserlöchern. Nicht auszudenken, wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert. Wir haben etwa 100 Liter Wasser dabei, das reicht für etwa eine Woche. Bei Temperaturen von über 50 Grad können wir ohne Wasser maximal ein bis zwei Tage überleben.
Die extreme Hitze machte ihnen zu schaffen. Aber noch mehr die Angst vor vernichtenden Buschfeuern, die Angst vor Zyklon Sam, der sich vor ihnen aufbaute, die ständige Furcht, dass sich eine King Brown im Schlafsack versteckten könnte, um sich der kalten Wüsten nacht zu entziehen – ihr Gift ist 200 fach stärker als das der meisten Klapperschlangen. Und dann noch dieser Jahrhundertregen. 100 Stunden regnete es nonstop. Die Wüste wandelte sich zu einem Labyrinth aus unzähligen Seen. Manchmal endete der Weg auf einer Sanddüne nach 25 Kilometern in einem See. Dann blieb nichts anderes übrig, als die 25 Kilometer zurückzulaufen – in der Hoffnung, ein trockenes Dünental zu finden.
Wir waren zwischendurch wieder in Deutschland, um die letzte Etappe auch finanziell vorzubereiten. Tanja und ich genossen den ungeheuren Luxus einer richtigen Behausung. Es regnet zum Beispiel nicht ins Bett hinein. Die Räume sind von einer Zentralheizung angenehm temperiert. Die Dunkelheit lässt sich durch einen simplen Schalterdruck verscheuchen. Jederzeit ist ein heißes Bad möglich. Diese Sicherheit ist unbeschreiblich. Wenn ich nur daran denke, dass uns in dieser behüteten Situation kein wildes Tier aus dem Bett scheuchte, kein brunftiger Kamelbulle in unser Schlafzimmer kam, um mit seiner zerstörerischen Wut auf alles zu treten, was uns kostbar ist. Das alles hatten wir erlebt.
Die letzte Etappe- Schon zu Beginn schlägt das Unglück zu. Giftige Pflanzen zwingen uns, die lebensfeindliche Simpson Wüste zu durchqueren. Die schlimmste Trockenheit seit 100 Jahren und gnadenlose Temperaturen bis 48 Grad im Schatten sind nur ein paar der vielen Herausforderungen. Unser guter Draht zur Mutter Erde und un beschreiblich schöne Erlebnisse geben uns immer wieder Kraft.
Ungern denke ich daran, wie unsere Jungs (also unsere Kamele) nach dem Dauerregen vier Tage lang im Wasser saßen. Goola und Istan sind daraufhin an Lungenentzündung erkrankt. Vier Wochen saßen wir deswegen in der Wüste fest. Obwohl wir alles versucht haben, das Leben von Goola zu retten, hat er es nicht geschafft. Traurig zogen wir weiter. Ich denke an die tödlich giftigen Pflanzen, die überall im Outback wachsen, und wie schwer es ist, unsere Kamele davon abzuhalten, sie zu fressen. Oder an die vielen wilden Kamelbullen, die uns meist nachts angriffen. Noch jetzt kommt es einem Alptraum gleich, wenn ich daran denke, dass ich zwölf von ihnen erschießen musste, um unser Überleben zu sichern.
Was bleibt? - Wir ertrugen Hitze bis zu 70 Grad in der Sonne, oft gab es keinen Schatten, weil es keine Bäume gab. Busch feuer waren eine ständige Bedrohung. Auf der ersten Etappe flüchteten wir über viele Wochen vor einer 1000 Kilometer langen Feuerfront. Aber nicht nur Sonne, Trockenheit, Durst, Wasser, Giftpflanzen, unzählige Insekten, Schlangen und brunftige Kamelbullen waren eine ständige Herausforderung, sondern auch ein Wirbelsturm der Superklasse löschte uns beinahe das Leben aus.
All diese Erlebnisse lassen mir die Haare zu Berge stehen, und wären da nicht mindestens genauso viele Höhepunkte und wunderschöne Geschehnisse, hätte ich keine Lust mehr, auch nur einen Kilometer weiter durch das ewige Land zu marschieren.
Nie werde ich die vielen Abende am Lagerfeuer vergessen, die für all die Entbehrungen entschädigten. Sternenklare Nächte. Diese unbeschreibliche Ruhe. Nur das beruhigende Wiederkäuen der Kamele, das Singen unbekannter Vögel, die farbenprächtigen, ja märchenhaften Sonnenauf- und untergänge. Die spannenden Begegnungen mit Aborigines, den Ureinwohnern Australiens.
Vor allem aber sind Tanja und ich von den Abenteuern fasziniert, die sich in uns selbst abspielen. Vieles haben wir dem uralten Kontinent zu verdanken. Wie zum Bei- spiel die Einsicht, den Augenblick als etwas Besonderes zu begreifen und zu leben. Die Momente tiefer Harmonie, innerer Ruhe und Gelassenheit. Ich bin überzeugt, dass wir der wichtigsten Frage des Lebens einen großen Schritt näher gekommen sind: Was ist der Sinn des Lebens? Ja, ich habe erfahren und begriffen, was wir sind, mit jeder unserer Körperellen: ein Teil der Wüste, der Natur, der Mutter Erde.
Zum Weiterlesen Schon im Vorfeld wussten die Katzers, dass diese Reise sie an ihre physischen und psychischen Grenzen bringen würde. Tatsächlich wurde es ein Marsch durch Himmel und Hölle, bei dem sie oft genug glaubten, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben: eine 1000 Kilometer lange Buschfeuerfront, 100 Stunden Dauerregen, Zyklon Sam. Doch die traumhafte Natur und unglaubliche Begegnungen mit der überaus hilfsbereiten Bevölkerung ließen immer wieder sämtliche Strapazen vergessen und erinnerten daran, wie es ist, das Leben intensiv zu genießen. In ihrem Buch Karawane durchs Outback– 7000 km zu Fuß durch Australien (Delius Klasing Verlag, 144 Seiten, 29,90 Euro) erzählen Tanja und Denis Katzer die besten Geschichten ihrer Red-Earth-Expedition. Ihre fantastischen Fotos zogen bereits mehrere Tausend Besucher von Diavorträgen in den Bann. Viele Fotos davon enthält ihr Buch.
Mehr Infos: www.denis-datzer.de