Die Frage führt zu den Anfängen der Menschheit zurück, buchstäblich zu Adam und Eva. Beide wollten den Apfel vom Baum der Erkenntnis essen. Die Risiken waren ihnen bekannt, das Vorhaben verlief eher spontan mit den überlieferten Konsequenzen. Seither dreht sich die Menschheitsgeschichte um die Suche nach Erkenntnis, dem Sinn des Lebens und des Pudels Kern. Womit wir vergleichsweise beim Mount Everest der literarischen Aufbereitung des Stoffs wären, Goethes Faust. Sein Spieleinsatz ist die Seele, die Aufgabe ethischer Grundwerte durch den Pakt mit dem Teufel. Der sitzt in der Hölle, oben im Himmel Gott der Allwissende und Allmächtige, dazwischen der Mensch in seiner mühevollen Existenz. Wem der leere Himmel zu abstrakt war, der verlegte den Göttersitz auf den Olymp und die höchsten Gipfel der Welt.

Das Alpine Museum in Kempten zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie das teleologische Denken des Menschen das Numinose in eisigen Höhen verortet. Darstellungen zeigen Kailash, Machapuchare – heilige Berge als Heimat der Götter, deren Gipfel nicht vom Menschen betreten werden dürfen. Die Zeugnisse aus Kunst und Literatur in aller Welt versammelt das Museum im untersten Saal und arbeitet sich empor bis in die Moderne zu Utensilien vergangener Everest-Expeditionen im 4. Obergeschoss. Nach wenigen Minuten begreift man, dass der Gipfel mehr ist als der höchste Punkt eines Berges, ein Stück vom Himmel, der Gral, Mittel zur Selbstverwirklichung, Sinn- findung. Doch egal, wie viele Gipfel man besteigt, es bleibt Stückwerk. Die Sehnsucht bleibt unstillbar. Der Bergsteiger und Schriftsteller Reinhard Karl hat dieses Phänomen in einen einzigen genialen Satz gepackt: »Wirklich oben bist du nie!« Mit dem Erreichen des Gipfels stirbt das Sehnsuchtsziel und gebiert den »Nachbargipfel« als neues Ziel. Der Berg als Hydra. Für die einen. Den anderen geht das Bergsteigen am Hosenboden vorbei.

Auf der Alpinismustagung 2003 des Deutschen Alpenvereins in Bad Boll lautete das Thema der Diskussionsrunden »Risiko«. Auslöser waren die vielen tödlichen Unfälle im Himalaya u. a. am Pisang Peak. Der Tenor der Presse: Leichtsinnige Alpinisten, besoffen vor lauter Ehrgeiz und Selbstüberschätzung, hätten sich und andere in Lebensgefahr gebracht. Die Reaktion des Deutschen Alpenvereins war die Tagung zum Thema Risiko. Und sie hatte gut angefangen. Im Eingangsreferat hatte Andreas Dick das chinesische Schriftzeichen für »Risiko« erwähnt. Es setzt sich zusammen aus den Zeichen für »Ge- fahr« und »Chance«. Sie bilden die Triebfedern, um an einer Herausforderung zu wachsen. Und das ist schließlich das Urmotiv menschlichen zielorientierten Strebens. Wie bei den meisten Tagungen blieben die brillanten Beiträge und Diskussionsergebnisse ohne sichtbare Wirkung auf die Realität.

Klar, dass Reinhold Messner eine plakative Tonart gegen die hauptamtlichen Risikominimierer des DAV anschlug: »Ein Berg, von dem ich nicht herunterfallen kann, ist kein Berg.« Ob diese Rambo-Mentalität das Erfolgsrezept Messners sei, wollte ich beim Interview von Hans Kammerlander wissen. »Das ist genau der Blödsinn, den alle Journalisten über den Reinhold schreiben«, raunzte Kammerlander mich an. »Die wenigsten wissen, dass er bei seinen Expeditionen öfter umgekehrt als oben angekommen ist. Das ist seine eigentliche Gro?ße: die Erfahrung, der Respekt vor der Natur und die Kraft zur Umkehr.«

Man muss nur Messners Bücher lesen und anderen Virtuosen der alpinen Literatur wie Walter Bonatti oder Eugen Guido Lammer zuhören, um diese Leidenschaft zumindestnachvollziehen zu können. Ist es das Aufgehen in der Schöpfung, das Einswerden mit der Natur? Diese Frage stellte ich vor Jahren dem Prior des Augustiner-Chorherren- Stifts auf dem Großen St. Bernhard, Bernard Gabioud. Welche Werte er als Bergführer seinen Chorherren auf Exkursionen vermitteln möchte. Ich dachte an Respekt, Demut, Epiphanie der Schöpfung oder so. Gabiouds Antwort: »Superare!« Was? »Selbstüberwindung!« 

Vordergrundig geht es doch wohl einzig und allein um die Überwindung des Gipfels, des Bergs, das Erreichen des Ziels, seien es Pole oder Kontinente. Und jahrzehntelang durfte man ergänzen: »Egal um welchen Preis«. Geld, die Seele, Gesundheit, das Leben – alles wurde in die Waagschale geworfen. Bis in die 1970er-Jahre gab es Großexpeditionen in den Himalaya mit generalstabsma?ßiger Planung. So machten sich etwa 800 Träger 1970 auf den Weg zum Mount Everest. Ein Dieselgenerator sorgte für Strom, damit die Sherpas im Basislager Videos der TV-Serie »Bonanza« schauen konnten. Die Bilanz: drei Millionen Dollar Kosten, sieben Tote, darunter sechs Sherpas, der Japaner Yuichiro Miura fuhr mit 160 km/h vom South Col über die Lhotse-Flanke ab und verletzte sich beim Sturz trotz Bremsfallschirm schwer, der kanadische Dokumentarfilm »Schussfahrt vom Mount Everest« erhielt einen »Oscar«.

Nur fünf Jahre später reisten Reinhold Messner und Peter Habeler mit kleinem Gepäck an, erstiegen ohne Flaschensauerstoff den Hid- den Peak und beendeten damit das Zeitalter des Eroberungs- und Belagerungsalpinismus. Die sportliche Höchstleistung im alpinen Stil wiederholten sie 1978 bravourös am Mount Everest, begleitet von den Warnungen vieler Ärzte, dass der Sauerstoffmangel dauerhafte Schäden nach sich ziehe. Warum nahmen sie nicht wenigstens die Hilfe versierter Höhenmediziner in Anspruch, um medikamentös auf die optimale Höhenanpassung einzuwirken? »Weil wir die Ersten waren, die sich da ranwagten. Wir waren uns einig, dass jede Einnahme von Medikamenten ein unkalkulierbares Risiko birgt«, erinnert sich Habeler. Habeler gehört zu den Topalpinisten der Messner-Generation und hat viel gesehen in den Basislagern der Achttausender. Bewerten möchte er seine Eindrücke nicht, andere verurteilen auch nicht. »Natürlich haben wir mitbekommen, dass in den Zelten einiges an Präparaten und Medikamenten kursierte, be- vor es auf den Berg ging. Frag den Bullen«, rät er mir. »Wenn sich da einer auskennt, dann der Bulle.«

Prof.Dr.Oswald"Bulle“Oelz ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Höhenalpinismus. Bulle Oelz ist Wissenschaftler, war von 1991 bis 2006 Chefarzt am Triemlispital in Zürich und hat über Höhenmedizin zahlreiche Fachpublikationen geschrieben. »Ja ja, in den Zelten kursierten oft sogenannte power pills. Das ist alles Unfug! Es gibt keine belastbaren Studien, welche Substanzen einen leichter auf einen Achttausendergipfel tragen«, sagt Oelz. »Für die Notversorgung von Höhenödemen kennen wir etliche Medikamente die pharmakologisch untersucht sind, aber als Aufstiegshilfe? Absoluter Quatsch! Zum Einschlafen ein bayerisches Bier, zum Feiern davor oder danach eine Flasche guter Rotwein, basta! Und über Amphetamine möchte ich mich gar nicht groß auslassen.«

Der Medikamentenmissbrauch im Extremalpinismus gehört zu den traurigsten Kapiteln der Geschichte des Bergsteigens. Der dumme Spruch des Expeditionsleiters und Mediziners Dr. Karl Herrligkoffer, »Pervitin gehört in die Rucksackapotheke jedes Höhenbergsteigers« klingt bizarr. Das epische Solo Hermann Buhls am Nanga Parbat unter Pervitin-Einfluss hätte ihn fast das Leben gekostet, Sigi Löws Pervitin-Höllenritt auf dem Hosenboden durch die Diamir-Flanke in den Tod – beides Herrligkoffer-Expe- ditionen. Breitenwirksam war Amphetamin – heute in der Drogenszene als »Speed«, »Ecstasy« und »Crystal Meth« im Umlauf – insbesondere im Zweiten Weltkrieg während der »Blitzkriege« gegen Polen und Frankreich. Unter den Spitznamen »Panzerschokolade« oder »Stuka-Tabletten« diente das Mittel zur Dämpfung des Angstgefühls und zur Steigerung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Pervitin war bis 1988 im Markt.

Das Sehnsuchtsziel zu erreichen, koste es, was es wolle, Geld, Leben, Gesundheit oder wie bei »Faust« die Seele, hat sich als Irrweg erwiesen. Das absolute Einswerden mit der Natur, die höchste Intensität der Selbsterfahrung funktioniert so nicht. Ein Ziel by fair means zu erreichen ist das Credo von Free-Solo-Kletterern wie Alexander Huber oder Alex Honnold. Sie verzichten auf jegliche Hilfsmittel, stellen sich dem Risiko mit breiter Brust. Statt mit feindlicher Strategie dem gewaltigen Berg »zu Leibe zu rücken«, ordnen sie sich dem Sehnsuchtsziel unter, bis ihre physische und mentale Stärke dem Ziel gewachsen ist.

In dieser geradezu archaisch anmutenden Konfrontation von gewaltiger Natur und winziger Kreatur wirkt Gabiouds Begriff der »Selbstüberwindung« sehr aktuell. Früher zogen Bergsteiger aus, um die letzten weißen Flecken der Erde zu erobern und auf ihnen einen Wimpel zu hinterlassen, heute lassen sie allen mentalen Ballast hinter sich und kehren heim in die Natur. Die Antwort auf die Frage, warum so viele Menschen die gro?ßten Risiken eingehen, um auf die höchsten Berge zu steigen, ist individuell verschieden und daher ein Spiegel ihrer Persönlichkeit. Wie sagte doch Walter Bonatti? »Man vergesse nicht, dass die großen Berge lediglich den Wert haben, den der Mensch ihnen zumisst. Ansonsten bleiben sie nur ein Haufen Steine.«