Da liegen wir nun in einer kleinen Mulde, mitten in der Einöde von Kasachstan, mehr als 3000 Kilometer von zu Hause entfernt, und verstecken uns vor Sasch und seiner betrunkenen Bande, die uns eben auf der Land­ straße angehalten und verprügelt haben. Wir verste­cken uns mit allem, was man so braucht, wenn man den tollen und vielleicht auch völlig verrückten Plan umsetzen will, mit dem Rad von Berlin nach Shang­ hai zu fahren: ein kleines Zelt, Schlafsäcke, Werkzeug und Messer, Kleidung, Kompass und Karte, eine klei­ ne Solaranlage zur Stromversorgung, Kameras, mit denen wir die Fahrt aufzeichnen, und unsere Pässe – nicht viel, aber jeder Fitzel davon ist umso wichtiger. In unseren übergroßen, blau­weiß gestreiften lang­ ärmeligen Shirts sehen wir ein bisschen aus wie ausgebrochene Sträflinge. Die Longsleeves sind aus billigem Stoff, aber mehr hat unser knappes Budget nicht hergegeben. Wir haben sie in einem Super­ markt irgendwo am Straßenrand in Russland gekauft und vorn in die Ärmel Löcher für die Daumen reinge­schnitten. So schützen sie uns einigermaßen vor der Sonne und blähen sich im Fahrtwind auf wie kleine Segel, was den Rücken angenehm kühlt. Irgendwann ist uns aufgefallen, dass viele Lkw­ Fahrer genau die gleichen Shirts tragen. Wir gehören also inzwischen zum Team der Straße.

Es gab einige Momente während der letzten sechs Wochen, in denen ich (Anm: Paul) mich zurück in mein Bett in der schönen, sonnigen Altbauwohnung in Berlin­Neukölln gewünscht habe, aber das waren nur kleine, sentimentale Schwächeanwandlungen. Jetzt, in diesem Augenblick, zweifle ich zum ersten Mal wirk­lich. Was für eine haarsträubend dumme Idee! Wie naiv von uns, zu glauben, die ganze Welt wäre zwei voll bepackten Radfahrern freundlich gesonnen. Klar, Kasachstan ist ein freundliches, einigermaßen zivilisiertes Land. Hier frisst man keine Radfahrer, aber es spricht eigentlich nichts dagegen, sie zumin­ dest auszurauben und ordentlich zu verprügeln, um ihnen ihre romantisch­abendländische Abenteuerlust auszutreiben.

Hinter uns senkt sich langsam die Sonne, und die Straße in einiger Entfernung ist nur noch durch die Buschreihe und die Reflexionen der vereinzelt pas­ sierenden Autos zu erkennen. Als der selbst gebaute Ständer meines Fahrrads mit einem leisen Kratzen hinter uns im sandigen Boden versinkt, zucke ich zu­ sammen. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. »Han­sen«, zische ich meinem Zwillingsbruder zu, der neben mir kauert und seinen Kopf zwischen den ver­ schränkten Armen versteckt.

Die Mulde ist das einzige Versteck weit und breit, also wohin sollten wir fliehen? In das weite Grasland der Steppe? Auf dem sandigen Boden können wir mit den Rädern nicht fahren, schon gar nicht mit dem vielen Gepäck. Wenn wir sie jetzt zurücklassen, um wegzu­ laufen, müssen wir aufgeben, denke ich, und als ob er meinen Ge­ danken gelesen hätte, sagt Hansen: »Paul, die finden uns hier nicht. Sie sind stärker, aber wir sind klüger. Und schneller. Wenn es hart auf hart kommt, rennen wir weg, las­ sen die ganze Ausrüstung zurück und schei­ ßen drauf. Bevor die mich kriegen, laufe ich lieber zu Fuß nach Shanghai!« Zum Glück ging alles gut, auch an diesem 43. Reisetag. Die Zwillingsbrüder Hansen und Paul Hoepner werden noch weitere fünf Monate mit ihren schwer beladenen Fahrrädern unterwegs sein, täglich mindestens 100 Kilometer, manchmal über 200 abspulen. Sie werden Dauerregen und Kälte, heftige Gewitter und extremen Gegenwind, Einöde, Terrormücken und Sandstürme ertragen, sich durch gnadenlose Hitze über unzählige Pässe quälen, die bis zu 5200 Meter hoch liegen.

Dieser Tag zehrt an unseren Kräften. Ständig wechselnder Wind, die leichte Steigung und schlechte Straßen machen das Fahren zur Qual. Egal wie ich an meinen Lenker greife, ich finde keine be­ queme Position. Ständig schlafen mir die kleinen Finger ein, und die Handgelenke schmer­ zen von den Schlaglöchern. In solchen Momenten helfen auch keine warmen Gedanken. Stumm schleppe ich mich hin­ ter meinem Bruder her, bis wir endlich auf einem kleinen Berg beschließen, das Nachtlager aufzuschlagen. Wir hätten den Platz nicht besser wählen können. Ringsum kann man fast 100 Kilometer weit schauen. Wüste, sanft geschwungene Hügelketten, schneebedeckte Berge. Es ist, als wenn die Natur eine sanfte Ohrfeige gibt, wenn man mal wieder vergessen hat, wo man eigentlich ist, was man hier gerade Außergewöhnliches erleben darf. All die Anstrengung ist vergessen.

Hansen und Paul hatten sich zum 30. Geburtstag vorgenommen, die längste mögliche Landstrecke von ihrem Wohnort Berlin aus so weit wie möglich Richtung Osten, fast um die halbe Welt zu fahren. Bis nach Shanghai. Sie wollten Neues kennenlernen – und sich selbst auch. Sie wollten Mühen, Glücksmomente und Zerwürfnisse in Kauf nehmen und Erfahrungen im Tagebuch, in Videos und Fotos dokumentieren.

  • Der 39. Tag. Was ist mir momentan wichtig? Ich meine, wirklich wich­tig. Es sind ganz essenzielle Sachen: Essen, Trinken, Schlafen, Vorwärtskommen, Ge­sundheit. Was ich vermisse? Nicht meinen Computer, den ich täglich nutze, sondern das Klavier, das ich viel zu selten spiele. Nicht mein Bett, sondern den Balkon. Ich glaube, wenn die alltäglichen Pflichten sich (wie jetzt) im Wesentlichen aufs Wasserbe­ schaffen, Essen und Schlafen beschränken, findet eine Art »Komplett­Reset« statt. Alle festgefahrenen Lebensprogramme werden beendet, das gesamte System wird in eine Art Sparbetrieb gebracht, sodass ein Neu­ start möglich ist.
  • Der 72. Tag. Verdammt, ich hab einfach die Schnauze voll von dem Ganzen. Fahren, es­ sen, schlafen, fahren, schwitzen – und im­ mer die gleichen doofen Fragen. Und dann dieses beschissene Warten vor je­ dem Supermarkt, wenn die Kinder alles am Fahrrad anfassen müssen, lieb und interes­siert tun und irgendwann nach Geld fragen. Diese ständige Hitze, diese endlose staubige Straße, die Kamele und ihr beschissenes Ge­gröle und die ätzenden Autofahrer, die uns gefährlich ausbremsen für ein blödes Foto. 
    Unterwegs treffen Hansen und Paul immer wieder vor allem hilfsbereite Menschen, die in ihre Häuser oder Hütten einladen, sie zu Wodkagelagen verführen und sie beschenken. Immer wieder sorgen besonders Staatsbeamte auch für enormen Stress, wenn es um die Ertei- lung oder Verlängerung der nötigen Visa geht. Deshalb gerät die Passage durch Russland eher zu einem einzigen Gehetze. Und der schöne Traum, auch durch Tibet zu radeln, geht nicht in Erfüllung, weil chinesische Behörden keine Genehmigung erteilen.
  • Der 106. Tag. Die Welt ist voller Grenzen, die es einem verbieten, sie ganz zu bereisen. Keiner kann einfach eine Weltreise machen. Die romantische Idee, hingehen zu können, wohin man will, ist naiv. Dabei ist es doch ein und derselbe Pla­net, verdammt! Eine Weltreise ist nur eine Aneinanderreihung von Erlaubnissen und Verboten, das hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun!
  • Der 138. Tag. Die Sonne hier oben hat eine enorme Kraft und verbrennt alles, was nicht mit Stoff bedeckt ist. Die Luft ist schon sehr dünn, und das Tuch vor dem Gesicht macht das Atmen nicht angenehmer. Wir müssen uns vorsichtig an die Höhen herantasten und uns gegenseitig und selbst beobach­ ten. Es geht über Passstraßen bis in etwa 5200 Meter Höhe. Wenn einer von uns beiden Schwindel, Schlaflosigkeit, Hu­ sten, Atemlosigkeit und anhal­tende Kopfschmerzen verspürt, müssen wir sofort auf eine geringere Höhe. Die Tat­ sache, dass wir nach dem Pass für mehr als eine Woche in kein Dorf kommen werden, hat dafür gesorgt, dass unsere Räder über­ ma?ßig schwer bepackt sind.
  • Yushugletscher. Der höchste Punkt der Tour. Nachts wird es bitter kalt, minus zehn Grad. Trotz all der Strapazen und der großen Sorge, von der ebenso gefährlichen wie tükischen Höhenkrankheit erwischt zu werden, erholen sich Hansen und Paul verhältnismäßig gut. 
    Wir haben das erreicht, wovon wir seit Anfang der Tour träumen. Endlose Weite, Berge, Einsamkeit. Schau dich um, Mann! Wir sind mit dem Rad hergefahren. Die ganze Zeit verfallen wir immer wieder in ein ehrfürchtiges Staunen über die unwirkliche Schönheit dieses Ortes. Wir können unsere Blicke nicht davon lösen, und als wir schlafen gehen, haben wir das sichere Gefühl, auf der Tour alles richtig gemacht zu haben.
  • Das Finale. Shanghai. Ein Bilderblitz geh durch meinen Kopf mit Erinnerungen an Polen, Russland, Kirgisistan, die Taklamakanwüste, den Himalaya, Eis, Schnee, Hitze, Durst und Hunger. Wir fallen uns in die Arme und stehen minutenlang ineinander verkeilt da. Nach einer Weile merke ich, wie sich ein paar neugierige Leute nähern. Ein paar Mal erklären wir, was gerade so besonders ist, beantworten Fragen, posieren für Bilder und prosten uns mit dem Champagner zu, den wir aus unseren Blechdosen trinken, die uns seit Kasachstan als Kaffeetassen gedient haben. Ich habe mir oft vorgestellt, wie wir am Ziel in Tränen aufgelöst zusammen­ brechen würden – jetzt ist alles anders. Auch wenn ich mir noch so oft sage und klarmache, dass ich am Ziel bin, es kommt in meinem Kopf nicht an. Ich schaue auf die imposante bunte Skyline von Shanghai auf der anderen Seite des Wassers und warte darauf, dass ein Emotionsschwall mich packt. Aber die Erschöpfung ist zu groß. Keine Tränen, kein Freudentanz. Wir stehen einfach nur da und starren fassungslos auf die überwältigende nächtliche Skyline. Wie abgemacht, rufen wir unsere Schwester, unseren Vater und unsere Mutter an und teilen ihnen mit, dass wir nach 13 600 Kilometern heil angekommen sind, am Ziel unseres gro?ßten Abenteuers. Ein chinesischer Mann, der die ganze Geschichte erzählt bekommen will, scheint gerührter zu sein als ich selbst. Ching Ching Dali besteht darauf, unsere Mutter zu sprechen, und sagt zu ihr: »We in China verrry proud of your sons!« Und da passiert es, plötzlich schießt mir das Wasser in die Augen ... 

 


Zum Weiterlesen
An ihrem 30. Geburtstag starteten die Zwillingsbrüder Hansen und Paul Hoepner ihr größtes Abenteuer: mit dem Fahrrad nach Shanghai. Warum Shanghai? Ganz einfach: weil dies der Endpunkt der längst möglichen Landstrecke von ihrem Wohnort Berlin aus war. In ihrem spannenden, sehr lesenswerten Buch Zwei nach Shanghai (Malik Verlag, 270 Seiten; 19,99 Euro) berichten die beiden über wohltuende Begegnungen und gefährliche Situationen, wilde Natur, den Kampf mit Behörden und – Bruderzwist. Auf Youtube und www.zweinachshanghai.de gibt es bewegte Bilder ihrer faszinierenden Reise.