Es ist wie im Schlaraffenland: Erst kommt die dicke Grießbreimauer in Form von zehn Stunden Flugzeit. Hat man sich einmal durchgebissen, folgt eine dreistündige Autofahrt nach Golden/British Columbia, wo am nächsten Morgen der Heli die kleine Gruppe aufsammelt und nach 15 Minuten vor der Icefall Lodge in den Selkirk Mountains landet. Im Shuttleverfahren setzt er die Anreisenden ab und lädt dann die Gruppe ein, die gerade ihre Tourenskiwoche beendet. Es bleibt Zeit für ein paar Worte.

»Wie war’s?« »Terrific!« »Und der Schnee? Powder?« Ein breites Grinsen: »Ihr habt hoffentlich Taucherbrille und Schnorchel dabei. Bei uns ging der Schnee bis zur Brust, und da soll noch mehr fallen ...« Der Heli fliegt wieder los, und wir sind allein mit Larry Dolecki und seinem Team in der Wildnis. Eine meterdicke Schneehaube hüllt das Spitzdach der 2008 erbauten Lodge ein, die bis auf die freigeschaufelte  Front tief im Schnee steckt. Zufriedenheit macht sich auf den Gesichtern der Gruppe breit. Das erste Versprechen wurde gehal- ten. Ja, hier gibt es Schnee, gaaaaanz viel Schnee. Und der Gastgeber begru?ßt uns mit ausgebreiteten Armen.

Also, auf die Idee muss man auch erst einmal kommen: Mitten in einer der schneereichsten Regionen der Erde – es fallen hier im Schnitt 15 Meter Neuschnee pro Saison – erwirbt der Bergführer und Skiguide Larry Dolecki die Nutzungsrechte eines 120 Quadratmeilen großen Geländes und errichtet darauf mehrere Stützpunkte für Tourengeher: 2005 die erste Hütte, 2008 die Lodge, später die Lyell Hut und die Mons Hut, jeweils einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Eine dreitägige großzügige Skitour verbindet die Lodge mit den beiden Hütten zur Icefall Traverse. Die daraus resultierenden round trips, runs, downhills sind schier zahllos und entlocken einem der Gäste ein lautes »Wow«, als er an der Wand im Eingangsbereich die Übersichtskarte sieht. Sie listet derzeit 183 verschiedene Skitouren auf – und jedes Jahr werden es mehr. Erst kürzlich hat Larry bei seinen Exkursionen mitten in einem der Gletscher eine gewaltige, mehrere hundert Meter lange Spalte entdeckt, durch die eine etwa zwei Meter breite Schneebrücke führt. Die Fahrt durch den eisigen Canyon zählt zu den verrücktesten Tourenerlebnissen überhaupt, besonders wenn die Sonne die Eiswände blau funkeln lässt. Ein exklusives Erlebnis, denn außer den Gästen der Icefall Lodge ist hier niemand.

Die gemütliche Lodge bietet bis zu 18 Gästen Platz und liegt exakt an der Baumgrenze, was bei den schnell wechselnden Wetterlagen ideal ist. Bei Schneetreiben führt ein rasanter Slalom im brusthohen Tiefschnee 500 Höhenmeter hinab durch den Wald, und bei Sonnenschein über 1500 Meter hinauf in fast jeder Himmelsrichtung. Die Menge der Möglichkeiten ergibt sich durch die ungewohnt weitläufige Geländeformation und eine andere Tourenauffassung: Hier geht man nicht auf einen Gipfel und das war‘s dann für den Tag, sondern man erschließt sich durch mehr oder weniger lange Aufstiege diverse Abfahrten, die oft nach der jeweiligen Geländeformation benannt sind: ridge, bowl, crest, couloir, chute, glacier und natürlich lustige Bezeichnungen, wie man sie aus der Kletterszene kennt, wie »Afterburner« oder »Toilet Bowl«. Es geht locker zu in und um die Icefall Lodge. Mehrere Gruppen sind gleichzeitig zu Gast. Während wir uns den Guides auf der Hütte anschließen und uns bekochen lassen, hat eine andere Gruppe alles mitgebracht, Essen, diverse Weine, sogar den eigenen Koch – Respekt! Aber irgendwie kommt jeder mit jedem klar, der Anfänger mit dem Profi, der einem Fotografen spezielle Motive liefern soll, der Luxustourengeher mit dem Rucksacktouristen und Selbstversorger. Das gemeinsame Interesse schweißt zusammen.

Der tagelang andauernde dichte Schneefall konfrontiert die Tourengeher mit einer neuen Situation: Der Witz mit dem Schnorchel war keiner! Jeder Schwung befördert eine Woge Schnee über den Kopf, die Sicht ist quasi nicht mehr vorhanden, und die Abfahrt wird zum beschwingten Vortasten in eine weiße Wolke; das Atmen fällt schwer, wenn man nicht die Lunge voller Schnee bekommen will. Nach der Rückkehr in die Hütte sind alle platt und freuen sich nur noch auf die Sauna, das Abendessen und das Bett. Im Eifer der Begeisterung kommen täglich schon einmal 2500 Meter im Aufstieg zusammen; da hält sich die abendliche Feierlaune in Grenzen.
Die Sonne enthüllt am Folgetag die gewaltigen Dimensionen und die Schönheit dieses Tourenparadieses. Solche endlosen Weiten vermitteln die heimischen Alpen allenfalls am Aletschgletscher und am Konkordiaplatz in der Schweiz. Selbst Larry, der hier seit fast zehn Jahren jeden Hang und jeden Gletscher erkundet, wundert sich noch immer: »Da gibt es ein langes Seitental auf meinem Gebiet, in dem ich noch nie war.« Ein zusammenhängendes riesiges Skitourenareal, XXL eben!

Mehr Infos:

www.icefall.ca