Sven hat an alles gedacht. Selbst einen Kompass hat er dabei. Jedes Teil hat er auf eine Waage gelegt, das Gewicht in einer Excel-Tabelle notiert.
Ein Trinkschlauch versorgt ihn mit Flüssigkeit, ohne dass er den rappelvollen Rucksack absetzen muss. Das Outdoor-Essen kann er gleich aus der Tüte verzehren, nur heißes Wasser rein, fertig. Gespült wird im klappbaren Spülbecken, die Fototasche macht er am Hüftgurt fest. Am Schulter-Riemen baumelt ein Gerät, das ihn mit einem Satelliten verbindet. „Damit weiß meine Familie daheim immer, wo ich bin.“

Sven blickt noch einmal über das Sump and an der Mündung des Marahau River. Dann zieht er los. Über den Damm, hinein in die Wildnis aus Urwald, Strand und Steilküste. Bei uns wirkt das im Vergleich weniger ambitioniert und auf Effektivität getrimmt. Wir müssen erst noch alles sortieren: Reis und Toastbrot. Dazu Zwiebeln, Kartoffeln und Karotten, die wir abends zu Suppe verkochen wollen. Gegessen wird vom Porzellan-Teller. Unser Fotoapparat ist in einer Umhängetasche verstaut, die in den Nacken schneidet. Statt eines Kompasses haben wir ein A-4-Blatt dabei, auf dem die Route eingezeichnet ist. Einen Satelliten-Empfänger haben wir auch nicht, dafür einen halben Berg Windeln. Denn in unserem Rucksack sitzt ein Passagier: Reka, unsere elf Monate junge Tochter.

Neuseeland ist ein Fest für Wanderer. Für ambitionierte wie Sven ebenso wie für, nun ja, Gelegenheitswanderer wie uns. Die neun schönsten Fernwander-Wege hat das Department of Conservation zu den Great Walks zusammengefasst. Darunter Klassiker wie der Milford-Track. Wer in Neuseeland Urlaub macht, für den ist einer dieser Wege Ehrensache. Was aber, wenn man mit einem Kleinkind unterwegs ist? Bei den Touren gibt es keine Verpflegung. Neben dem Nachwuchs müsste die Nahrung geschultert werden. Und weil Babys in den Hütten nicht gern gesehen sind, kämen noch Schlafsäcke, Iso-Matten und Zelt dazu.

Müssen Familien die Great Walks also abschreiben? Einen nicht. Die Campingplätze und Hütten des Abel Tasman Coast Tracks im gleichnamigen Nationalpark liegen am Strand. Wassertaxis landen dort problemlos, können Gepäck zum Schlafplatz schippern. Also wagen wir das Abenteuer und wollen ausprobieren, ob der Weg mit Baby funktioniert. Er verspricht viel: Eine 55 Kilometer lange Route durch urwüchsigen Wald, entlang an Stränden und Steilküste. Von Marahau im Süden bis Wainui Bay im Norden – dort ankerte Abel Tasman, Entdecker Neuseelands, vor rund 360 Jahren. An Land ging er nicht: Bei einem Scharmützel auf See mit den ortsansässigen Maori hatten vier seiner Matrosen ihr Leben gelassen. So bewunderte Tasman die Schönheit der Insel sicherheitshalber nur vom Wasser aus.

Wir aber wollen mehr. Wir wollen in vier Tagen bis Totaranui, letzte Station der Wassertaxis. Für den ersten Tag sind zwölf Kilometer angesetzt. Unser schweres Gepäck sind wir schon los. Mit unserer Tochter, die knapp neun Kilo wiegt, mit ihren Windeln, Feuchttüchern, ihrem Haferbrei, dem Sonnen- und Insektenschutz schleppen wir auch so nicht zu knapp. Es ist kurz nach zehn Uhr morgens, als wir Sven folgen. Wie ein schüchternes Kind beäugt uns die Tasmansee, jenes glitzernde Stück Pazifik zwischen Neuseeland und Australien, erst mal aus der Ferne. Die Ebbe legt die Sandy Bay bloß. Zwischen Wolkenfetzen lugt die Sonne hervor. Die Region im Nordwesten der Südinsel gilt als eine der sonnigsten Neuseelands. Der anfangs ache Weg schmiegt sich an die Steilküste, Baumfarn spendet Schatten. Reka beglückt Entgegenkommende mit Lachen und Winken. Manchmal schimpft sie, weil wir so zügig an den Blättern und Steinen und Stöcken vorbeimarschieren, mit denen sie so gern spielen würde. Wir wandern über Stege, unter denen sich Bäche einen Weg zwischen moosüberzogenen Steinen Als wir eintrudeln, hat Sven längst sein Zelt aufgeschlagen. Den Kompass hat er so wenig gebraucht wie wir unsere Skizze. Der Track ist einfach hervorragend beschildert. Vom Aussichtspunkt Stus Lookout schweifen unsere Blicke zurück nach Marahau,wo zwei Kajaks in See stechen. Sprachlos betrachten wir das türkisfarbene Meer, den goldgelben Sand. Obwohl uns beides ab jetzt dauernd begegnet, sehen wir uns daran nicht satt. Am Mittag klettern wir zur Apfelbaum- Bucht hinunter, ein Strand mit Blick auf zwei Inselchen. Um die 20 Wanderer sind schon da. Das Paradies gewährt keine Exklusivrechte, ist aber groß genug für alle. Gespro- chen wird vor allem Deutsch. „Deutschland hält den Tourismus hier am Laufen“, spottet ein Isländer. „Wenn keine Deutschen mehr kommen, ist Neuseeland pleite.“

Reka entdeckt derweil, wie Muschelschalen schmecken. Das Wandern im Rucksack bekommt ihr besser als unseren Schultern. Zum Glück hält der heutige Tag noch eine weitere Kulisse für eine ausgiebige Pause parat: die Stillwell-Bay. Später geht es stetig aufwärts, über einen Sattel hinweg. Das Tagesziel, die Anchorage-Bucht mit Hütte und Zeltplatz, ist nach sieben Stunden, inklusive vieler Pausen, erreicht. In der kreisrunden Badebucht liegen mehrere Boote vor Anker – und unsere Gepäckstücke tatsächlich schon am Strand bereit. Als wir eintrudeln, hat Sven längst sein Zelt aufgeschlagen. Den Kompass hat er so wenig gebraucht wie wir unsere Skizze. Der Track ist einfach hervorragend beschildert. Reka liefert sich mit den Enten auf dem Platz eine Verfolgungsjagd. Nach gut einer Stunde hat der Gaskocher die Karto eln weichgekocht. Wir wärmen uns am Feuer und kriechen ins Zelt. Und mit seinem Ruf, der an einen Papagei erinnert, der Klingeltöne imitiert, singt uns ein Tui-Vogel in den Schlaf.

Am nächsten Tag zieht Sven als einer der ersten los. Wir lassen es gemütlich angehen und wählen zur Torrent-Bay nicht den kürzeren Weg, der bei Niedrigwasser direkt über den Strand führt, sondern die Umgehung mit Abstecher zum Cleopatra-Pool. Ein Wasserfall hat dort eine kleine Badestelle samt natürlicher Rutsche geschaffen – und die beschert uns blaue Flecken. Steil und schweißtreibend geht es dann hinauf auf die Klippen, die jede Anstrengung mit Blicken auf Meer, Felsen und Urwald belohnen. Den Falls River überqueren wir auf einer imposanten Hängebrücke. Reka schaukelt mit. Als wir am Abend des zweiten Tages in die Bark Bay einlaufen, wo die Tasmansee den Campingplatz bei Flut von drei Seiten umspült, ist die Szenerie zu einladend. Wir beschließen einen Tag Pause. Einen Tag, an dem wir am Strand liegen oder spielen und das weiche Wasser auf unserer Haut spüren können.

Ausgeruht und gestärkt scha en wir den Rest unseres Wegs wie im Flug. Schlanke Kiefern, lichtdurch uteter Urwald, Vögel, die es sonst nirgendwo gibt. Onetuhati- Strand, Tonga-Sattel. Die Durchquerung der kleinen Bucht bei Awaroa ist nur bei Ebbe möglich. Die Rückfahrt mit dem schwankenden Wassertaxi führt an einer Robben-Kolonie vorbei. Unser Gepäck ist dank dieses Service schon vor uns wieder am Parkplatz. Inklusive des Beutels mit den benutzten Windeln – denn im Nationalpark gibt es keine Mülleimer. Wir wischen uns den Sand aus den Gesichtern. Diesen Weg mit Baby? Jederzeit. Es geht dabei nicht nur ums Laufen und schon gar nicht ums Ankommen – sondern ebenso ums Rasten. Auch Sven hatte an der Bark Bay spontan umgeplant – und war genau wie wir einfach dageblieben. Der Abel Tasman Coast Track hat schon manchen ehrgeizigen Langstreckenläufer in einen Genusswanderer verwandelt.