Text und Fotos: Anja Kocherscheidt

"Was ist eigentlich ein Eiserner Vorhang, Mama?”, fragt mich meine achtjährige Tochter Marlene mit großen Augen. Wir stehen vor einem Fahrrad-Wegweiser mit der Aufschrift „Iron Curtain Trail” im schleswig-holsteinischen Büchen, und ich ringe um eine kindgerechte Antwort. Vor zwei Tagen waren wir zu unserer ersten längeren Radtour in Lüneburg gestartet und entlang der Alten Salzstraße bis hierher geradelt. Durch nichts war meine Tochter von dieser Tour abzubringen gewesen, seit ich ihr beim Einschlafen von den Radreisen meiner Jugendzeit erzählt hatte. Damals war ich jeden Sommer auf zwei Rädern unterwegs – mit Satteltaschen und Zelt und im Takt des Straßenbelags klapperndem Campinggeschirr. Mit Eltern und Geschwistern, in Frankreich, Andalusien, im Schwarzwald oder rund um den Bodensee. Bei meinen Berichten sprang offenbar ein Funke über, denn für Marlene stand danach fest: Das machen wir auch! Und nun beginnt also hier in Büchen der sehr persönliche Teil unserer Reise.

Der „Iron Curtain Trail”, auch als EuroVelo 13 bekannt, ist Teil eines europäischen Fernradwegs, der – immer entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs – durch 20 Länder von der Barentssee bis ans Schwarze Meer führt. Seine Gesamtlänge liegt bei knapp zehntausend Kilometern. Das Teilstück, das wir uns vorgenommen haben, führt zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein 160 Kilometer mal auf der einen, mal auf der anderen Seite der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze – durch ursprüngliche Landschaften, vorbei an Badeseen, über sanfte Hügel und tiefe Wälder.

Vollbremsung für die kleinen Tierchen am Wegesrand – na logisch!

Doch mein neugieriges Kind will nicht nur harte Fakten hören. Vehement fordert sie auch meine ganz persönlichen Erinnerungen an den Eisernen Vorhang ein. Denn als Kind von Republikflüchtlingen hatte ich als Elfjährige – im Sommer 1988 – am eigenen Leib zu spüren bekommen, welch ein Wahnwitz die deutsche Teilung bedeutete. Unsere versuchte Flucht scheiterte zwar nicht an der deutsch-deutschen Grenze, aber an einem Schlagbaum in Ungarn. Nur wenige Meter trennten uns noch von Österreich, als Grenzsoldaten mit vorgehaltenen Waffen meine Eltern, meine beiden Schwestern und mich aus dem verbeulten Auto zogen. Marlene will alles ganz genau wissen – vom Gefängnisaufenthalt ihrer Großeltern, meiner Zeit im Heim und den Unterschieden zwischen dem „Osten“ und dem „Westen“. Und so erkläre ich ihr die geschichtlichen Zusammenhänge, gespickt mit meinen persönlichen Erinnerungen an das Leben in der DDR.

Schau- und Gedenktafeln am Wegesrand helfen meinem Gedächtnis auf die Sprünge und ergänzen die historischen Fakten. So erfahren wir etwa bei Besenthal mehr über die jüngere Geschichte der näheren Umgebung. Der Ort hatte seinerzeit Glück im Unglück, denn es lag drei Kilometer von der DDR-Grenze entfernt – im Westen. Nach 1945 befand sich der Ort urplötzlich in einer Randlage, der Bewegungsradius in Richtung Osten war gekappt. Doch immerhin blieben das Dorf und die Gemeinschaft erhalten.

Zeugnis der deutsch-deutschen Teilung
im Grenzhus Museum in Schlagsdorf

Andere Orte, die direkt auf der Grenze lagen, hatten weniger Glück. Sie wurden kurzerhand zerschnitten, Familien, Freunde und Kollegen auseinandergerissen. Zudem erklärte man im Osten einen fünf Kilometer breiten Grenzstreifen zur Sperrzone. Auf Befehl der Stasi wurden allein 1952 rund 10.000 Menschen auf diesem Gebiet zwangsevakuiert. Der brutale Deckname der Operation: „Ungeziefer“. Oft wurden die Dörfer und Höfe nach der Zwangsaussiedlung eingerissen und planiert. „Geschliffen“, wie das im Stasi-Jargon hieß.

Wie ein Schwamm saugt meine Tochter alles auf und fragt mir Löcher in den Bauch. Nur um mich wenig später mit ihrer Lebensfreude wieder aus den düsteren Erinnerungen zu reißen. So durchqueren wir hinter Bergholz ein Wäldchen, das unvergleichlich nach Tannennadeln, sommerlichen Gräsern, Pilzen, Moosen und Blumen, duftet. „Wäre das schön, wenn man diesen Duft einfangen und mit nach Hause nehmen könnte!“, seufze ich. „Können wir doch!“, erklärt meine Tochter, springt kurzerhand vom Rad und sammelt allerlei Duftzutaten ein. „Die packen wir jetzt in unser leeres Pesto-Glas von gestern Abend, verschließen es gut, und zuhause können wir es dann ab und zu mal öffnen und uns an unsere schöne Zeit erinnern.“

Unser heutiges Tagesziel ist der Campingplatz in Groß Zecher am Schaalsee. Die Infrastruktur vor Ort ist überschaubar, daher wollen wir uns vorab im Dorfladen von Gudow mit ein paar Kleinigkeiten eindecken. Vor der Tür kommen wir mit einer älteren Dame ins Gespräch. Sie erzählt uns von ihrer Familie und von der Zeit, als hier in unmittelbarer Nachbarschaft noch die Grenze verlief. Marlene strahlt, denn ihr Geschichtenspeicher bekommt heute ordentlich Futter. Damit später auch der Bauch zufrieden ist, decken wir uns mit frischem Gemüse, Kartoffeln, Wiener Würstchen und Getränken ein – heute Abend soll es Kartoffeleintopf geben, Marlenes Leibgericht.

Planschen, Segeln oder einfach Entspannen, Campingplatz Groß Zecher am Schaalsee

Auf der Zielgerade zum Campingplatz biegen wir auf die Straße „Zuckerhut“ ein. „Ja, sind wir denn hier in Brasilien?“, muss ich lachen. Die Temperaturen würden dazu passen – es ist schwül, und alles deutet auf ein Sommergewitter hin. Hoffentlich bekommen wir jetzt, mitten in den Sommerferien noch ein Plätzchen auf dem Campingplatz am See! Reserviert haben wir nicht, schließlich wussten wir im Vorfeld nicht, wie weit wir kommen würden. Doch wir haben Glück: Eine radelnde Achtjährige mit ihrer Mama schickt wohl keiner weg. Wir ergattern das vermutlich letzte Eckchen auf dem ansonsten ausgebuchten Platz, schlagen unser Zelt auf und beginnen mit den Vorbereitungen fürs Essen. Eifrig schnippelt Marlene Kartoffeln, Karotten und Sellerie – und verschwindet, schwuppdiwupp, immer wieder auf dem Spielplatz. Dort hat sie ein anderes Mädchen kennengelernt und schon sind sie dicke Freundinnen.

Ich genieße derweil die Ruhe, lasse den Blick über den See schweifen und beobachte das Treiben der Wasservögel, während die Suppe leise vor sich hin köchelt. Und plötzlich, nach dem Essen, als der Regen leise an die Zeltwand klopft, ist es wieder da, dieses Gefühl von früher: Wir kuscheln uns in die Schlafsäcke und schließen die Augen. Keiner muss das Licht ausknipsen, das erledigt die Nacht ganz allein.

Infos: www.herzogtum-lauenburg.de oder de.eurovelo.com/ev13


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Ein Wandertagebuch von der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze gibt es außerdem auf wandermagazin.de: Thorsten Hoyer erwandert das Grüne Band Deutschland